Am 30. September 1989 verkündete der damalige Bundesminister des Auswärtigen Hans-Dietrich Genscher den Botschaftsflüchtlingen in Prag, dass ihre Ausreise in die Bundesrepublik genehmigt sei. Noch am selben Abend verließ der erste Sonderzug Prag in Richtung Westdeutschland. Auf dem Weg dorthin durchquerte er auch das Gebiet der DDR. Darauf hatte die DDR-Regierung bestanden, um so noch einmal Härte zu zeigen. 253 km durch DDR-Territorium: Die Reaktionen auf diese Fahrt kamen für viele Seiten überraschend – und trugen ihren Teil zum Verlauf der Friedlichen Revolution bei.
Im Sonderzug
Anfangs wollte ich mich auf keinen Fall in diesen Zug setzen. Ich vermutete, die DDR würde uns wieder linken.
https://www.zeit.de/2014/32/ddr-fluechtlinge-zug-prag/komplettansicht
Viele der geflüchteten DDR-Bürger*innen verbringen die Fahrt im Sonderzug in großer Ungewissheit. Dass sie noch einmal das Gebiet der DDR durchqueren sollen, ist vielen nicht geheuer. Insbesondere, als zwei Stasi-Mitarbeiter*innen in Reichenbach zusteigen, sorgt das für Unsicherheit. Fährt dieser Zug wirklich in den Westen? Werde ich doch noch kurz vor meinem Ziel geschnappt? Auch die Begleitung durch westdeutsche Diplomaten zerstreut die Ängste nicht.
Die Befürchtungen der DDR-Flüchtlinge erweisen sich als unbegründet. Zwar sammeln die Stasi-Beamten ihre Pässe ein, bürgern sie also während der Fahrt aus. Aber verhaftet wird niemand. Unbehelligt setzt der Sonderzug seine Fahrt gen Westen fort.
Um 6:14 Uhr morgens haben die ehemaligen DDR-Bürger*innen ihr Ziel erreicht. Da hält der Zug in Hof, einem Ort in Bayern. Ihre Reise in den Westen ist endlich abgeschlossen. Doch wie es weitergeht, das wissen die Wenigsten. In der Nacht vom 30. September auf den 01. Oktober reisen über 5.200 Botschaftsflüchtlinge in sechs Zügen aus Prag in den Westen aus.
An der Strecke
Ganz so unspektakulär, wie oben beschrieben, verläuft die Zugfahrt nun doch nicht. Die Emotionen und Gedanken, die den Passagieren im Sonderzug durch den Kopf jagen, können wohl nur sie nachempfinden.
Allerdings sorgt auch die Fahrt durch das DDR-Staatsgebiet bei den DDR-Bürger*innen für Aufregung. Die Nachricht über die Züge verbreitet sich gerade durch die Westmedien. Und so stehen entlang der Strecke unzählige DDR-Bürger*innen, die den ehemaligen Mitbürger*innen trotz Verbots zuwinken. Im sächsischen Plauen etwa hängen Anwohner*innen Spruchbänder mit „Das Vogtland grüßt den Zug der Freiheit“ aus den Fenstern.
Wie schon erwähnt, bleibt es nicht bei dem einen Sonderzug. Obwohl in sechs Zügen über 5.000 Menschen Prag nach Westdeutschland verlassen, ist die Botschaft bereits am 4. Oktober wieder von Flüchtlingen besetzt. Nun campieren sie sogar schon auf dem Vorplatz. Schließlich wird auch ihnen allen die Ausreise erlaubt. Vom 4. auf den 5. Oktober verlassen acht weitere Züge Prag mit 6.200-8.200 Flüchtlingen an Bord.
Einige DDR-Bürger*innen versuchen, entlang der Strecke durch die DDR auf die Züge aufzuspringen. Wie vielen es gelang, lässt sich heute schwer ermitteln. Für Dresden sind drei erfolgreiche Aufsprünge belegt, weitere drei gelingen in Reichenbach und zwei Personen schaffen es im Bahnhof Plauen. Viele Andere, deren Fluchtversuche scheitern, werden an der Strecke verhaftet.
In Dresden
Insbesondere in Dresden, wo die ersten zwei Züge der zweiten Welle aus Prag noch für einen Lockwechsel halten, ist die Polizei bald nicht mehr Herr der Lage. Dort belagern Tausende den Hauptbahnhof, um eventuell die Gelegenheit zur Flucht ergreifen zu können.
„Das war sehr emotional für uns, zu sehen, dass die Polizei mal richtig auf die Fresse kriegt.“
Ein Zeitzeuge über die Straßenschlachten mit der Polizei am Dresdner Hauptbahnhof: https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2014-10/dresden-unruhen-hauptbahnhof-stasi-1989-mauerfall/komplettansicht
Am 3. Oktober können die Sicherheitskräfte die Mengen nicht mehr aufhalten. Circa 140 Bürger*innen durchbrechen die Absperrungen. Bei dem anschließenden Andrang auf den Zug fällt ein Mann ins Gleisbett und verliert durch einen heranrollenden Zug ein Bein. Die Polizei muss den Bahnhof räumen und dann sperren.
In den Tagen darauf herrscht um den Hauptbahnhof eine Stimmung, die manchen an 1953 erinnert. Sicherheitskräfte und Demonstrierende stehen sich gegenüber, Steine werden geworfen, Menschen niedergeschlagen, andere verhaftet. Die Lage droht zu eskalieren.
Dass der Konflikt nach wenigen Tagen doch noch friedlich beigelegt wird, ist der Besonnenheit Dresdner Bürger*innen zu verdanken. Am 8. Oktober werden auf Initiative eines katholischen Pfarrers zunächst Gespräche mit den Sicherheitskräften geführt, diese stellen Kontakt zum Oberbürgermeister her. Friedlich gehen die Menschen auseinander. Ein seltener Glücksfall. Und einen Tag später trifft sich der Oberbürgermeister mit den Abgeordneten der Protestierenden, der „Gruppe der 20“.
Und die Züge der zweiten Ausreisewelle? Während die ersten drei Züge noch Dresden durchfahren, nachdem die Polizei den Bahnhof räumt, befahren die letzten fünf eine andere Route. Diese führt über Bad Brambach und verkürzt die Strecke durch die DDR auf 95 km. Was als Muskelspiel der DDR-Regierung begann, endet für sie in einer Blamage.
In Hof
Am Morgen des 1. Oktober herrscht in Hof Feierstimmung. Mitarbeiter von Bahnhofsmission, Bayerischem Roten Kreuz und Technischem Hilfswerk stehen seit Stunden bereit, um die DDR-Flüchtlinge am Hofer Hauptbahnhof zu versorgen. Weitere tausende Menschen versammeln sich am Bahnhof, allein um die Neuankömmlinge zu begrüßen.
Als diese Hof erreichen, kennen Euphorie und Erleichterung kein Halten mehr. Zur Begrüßung erhalten alle Neubürger*innen 200 DM Begrüßungsgeld, sowie Kleidung und Verpflegung. Völlig fremde Menschen liegen sich auf einmal in den Armen. Anschließend geht es in improvisierte Aufnahmelager in Hessen und Bayern. Wer Familie in Westdeutschland hat, kann zu ihr reisen. Für die anderen beginnt eine Zeit voller Ungewissheit. Aber auch voll neuer Möglichkeiten.
weiterführende Interviews, Videos, …
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Tagesschau vom 5. Oktober 1989
Artikel und Interview über die Unruhen in Dresden.
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