Unter der Rubrik „Meine Demokratiegeschichte“ wollen wir über Menschen und ihre ganz persönliche Demokratiegeschichte erzählen. Augenblicke, Erlebnisse, Reflexionen, eigenes Handeln oder das Handeln anderer … Jeder verbindet in seinem Leben etwas anderes mit Demokratie. Im eigenen Alltag erlebt jede und jeder Demokratie unterschiedlich. Wir wollen einen Fächer an Geschichten und Portraits eröffnen. Ich beginne einfach mit einer eigenen Erinnerung. Als mir das erste Mal bewusst wurde, was Demokratie darf und kann.
Demo auf dem Dorf
Es ist ein kalter Januarmorgen 1990. Ein kleines uckermärkisches Dörfchen in der DDR. 20 Kinder und Jugendliche stehen an einer Haltestelle und warten auf den Schulbus. In der Regel herrscht morgens eher mürrisches, unausgeschlafenes Schweigen. An diesem Morgen reden wir alle aufgeregt durcheinander. „Hast Du Ida Knop schon gesehen?“ „Nein. Warum?“ frage ich. „Die Knop demonstriert.“
Einige haben auf ihrem Weg zur Haltestelle Ida Knop gesehen. Sie stehe vor dem Gebäude der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Mit einem richtigen Demonstrationsplakat. So wie man sie im Fernsehen aus Leipzig und Berlin sieht. Ich frage, was auf dem Plakat steht? Keiner kann sich richtig erinnern. Irgendwas mit See und Dünger und Schutzstreifen. Vielmehr beschäftigt uns die Frage: Darf man das? Demonstrieren? Ja, die in den großen Städten machen das. Die gehen auf die Straße und fordern und rufen und halten ihre Plakate in die Fernsehkameras. Aber bei uns auf dem Dorf? Geht das überhaupt? Hier sind nicht mal Fernsehkameras. Was denkt sich die Knop? Wir schütteln die Köpfe. Ich werde immer neugieriger. Als der Bus wenige Minuten später losfährt, schauen alle Kinder gebannt aus dem Fenster. Im Vorbeifahren wollen wir einen Blick auf Ida Knop und ihre Demo erhaschen.
Und dann sehe ich sie. Ruhig, freundlich und entschlossen. Mit einer dicken Jacke und festen Stiefeln schützt sie sich gegen den eisigen Wind. In ihrer Hand hält sie ein großes Schild: „Zu meinem 50. Geburtstag wünsche ich mir einen 100 Meter breiten Schutzstreifen um den See, auf dem nicht gedüngt werden darf.“
Die Demo wird Gesprächsthema
An diesem Tag war Ida Knop Gesprächsthema Nummer eins in der Schule. In der folgenden Zeit gab es kaum eine Kaffeetafel, eine Geburtstagrunde oder einen Rentnertreff in dem uckermärkischen Dörfchen, wo nicht über Ida Knops Demonstration gesprochen wurde. Die Meinungen über ihre Aktion gingen auseinander. Die einen sagten, sie habe ja schon immer einen Spleen gehabt. Und jetzt dieser Ökokram am Dorfsee! Viele kamen auch ins Grübeln. Sie gestanden Ida Knop zu, mit ihrer Forderung nicht Unrecht zu haben. Die Algen im Dorfsee seien in den letzten Jahren tatsächlich mehr geworden. Das könne durchaus mit dem vielen Dünger zusammenhängen. Andere wiederum fanden Ida Knops Demo mutig. Sie waren stolz. Jemand in unserem Dorf hat den Mund aufgemacht. Jemand sagt seine Meinung. Was die in Berlin und Leipzig können, das können wir hier auf dem Dorf auch!, hieß es.
Das Wirken im Kleinen
20 Jahre habe ich gebraucht um zu begreifen, was Ida Knop damals in ihrem kleinen uckermärkischen Dörfchen bewegt hat. Ohne, dass sie es ahnte.
Zwei Dinge hat Ida Knop mit ihrer kleinen Demo bei den Dorfbewohnern gedanklich angestoßen, die 1990 nicht selbstverständlich waren: Öffentlich seine kritische Meinung zu vertreten und zu protestieren, ist nicht nur die Sache der Anderen. Das geht auch auf einem Dorf. Und die Sauberkeit der Umwelt ist eine Frage der Eigenverantwortlichkeit. Ida Knop griff als Erste zu einem Mittel des öffentlichen Protestes. Dafür waren die Menschen in unserem Dorf noch nicht bereit.
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