Demokratiegeschichten

Wahlen im Deutschen Kaiserreich – Ein Monarch von Demokraties Gnaden?

UNormalerweise denkt man beim Begriff „Kaisertum“ nicht unbedingt an ein Regierungssystem, welches seinen Bürger*innen irgendeine Art von Mitsprache am politischen Entscheidungsprozess erlaubt. Doch auch in Staaten, an deren Spitze ein kaiserlicher Monarch steht, gibt es bisweilen demokratische Partizipationsmöglichkeiten. Ein Beispiel für eine solche konstitutionelle Monarchie ist das Deutsche Kaiserreich (1871-1918), welches der preußische Ministerpräsident, Otto von Bismarck, in der Folge des deutsch-französischen Krieges aus den daran beteiligten deutschen Staaten formt. Der König von Preußen, Wilhelm I., wird nach dem Sieg zum Deutschen Kaiser ausgerufen und das Parlament dieses ersten deutschen Nationalstaates ist der Reichstag.

Die erste Reichstagswahl

Vor 150 Jahren, am 3. März 1871, sind die Deutschen das erste Mal aufgerufen, ihre Stimme für dieses Organ der Volksvertretung abzugeben. Die Stimmabgabe beruht dabei auf einem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht, welches als das damals fortschrittlichste Europas gilt. Wahlberechtigt sind freilich nur alle deutschen, im Kaiserreich lebenden Männer ab 25 Jahren. Weitere Einschränkungen gibt es etwa bei Entmündigten und Militärangehörigen. Frauen erringen sogar erst 1918, nachdem das Kaiserreich am Ende des Ersten Weltkriegs untergegangen ist, das Recht, ihre Meinung an der Wahlurne kundzutun. Dies führt dazu, dass bei der ersten Reichstagswahl nur knapp ein Fünftel (19,4 %) der deutschen Bevölkerung überhaupt berechtigt ist, seine Stimme abzugeben.

Parlament im Reichstag; Foto: Zeitschrift „Niva“ 1906, wikimedia/gemeinfrei.

Die Abgeordneten des Reichstags werden direkt gewählt, d.h. ohne eine Zwischenstufe von Wahlmännern. Sie müssen in ihrem jeweiligen Wahlkreis die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erringen, um ins Parlament einzuziehen. Bei der ersten Reichstagswahl gibt es 382 Wahlkreise im Kaiserreich. Drei Jahre später kommen 15 weitere für Elsass-Lothringen hinzu, welches im März 1871 noch nicht zum Deutschen Reich gehört. Erhält kein Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit, kommt es zu einer Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen. Diese Stichwahlen gewinnen im Laufe der Jahre immer mehr an Bedeutung und entscheiden bei der letzten Reichstagswahl 1912 in knapp der Hälfte der Fälle darüber, wer letztlich Abgeordneter im Parlament wird.

Die Einteilung der Wahlkreise erfolgt abhängig von der Bevölkerungszahl. So vertritt ein Reichstagsabgeordneter Anfang der 1870er Jahre ca. 100.000 Einwohner*innen des Kaiserreichs. Diese erste Festlegung der Wahlkreise bleibt bis 1918 unverändert und das, obwohl es in den knapp fünf Jahrzehnten der Existenz des ersten deutschen Nationalstaates zu massiven Bevölkerungsverschiebungen kommt. Zuletzt sind im Reichstag deshalb städtische Gebiete und ihre Einwohner*innen zunehmend unterrepräsentiert.

Das Wahlergebnis

Die eindeutigen Gewinner der ersten Reichstagswahl Anfang 1871 sind die Nationalliberalen, die sich über 30 % der Stimmen sichern können. In der Folge werden sie es sein, die maßgeblich den Kurs Otto von Bismarcks, der von Kaiser Wilhelm I. zum Reichskanzler ernannt wird, unterstützen. Auch für die konservativen Parteien ist das Ergebnis mit zusammengenommen fast einem Viertel der Stimmen zufriedenstellend. Dann folgen das katholisch geprägte Zentrum mit fast 19 % und die Linksliberalen mit knapp über 9 %. Das Schlusslicht bilden die sozialdemokratischen Parteien, die zusammen nur klägliche 3,2 % der Stimmen ergattern. Von der Massenbewegung, zu der die Sozialdemokratie in den nächsten Jahrzehnten heranwächst, ist sie zu diesem Zeitpunkt noch weit entfernt.

Eduard von Simson, Porträt von Eduard von Simson; Quelle: wikipedia/gemeinfrei

Zum Reichstagspräsidenten wird ein Urgestein der deutschen Demokratiegeschichte: Martin Eduard Sigismund Simon. Er diente bereits zuvor als Abgeordneter und Präsident der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49. Erstmalig treten die neugewählten Abgeordneten des ersten Reichstags am 21. März im Preußischen Abgeordnetenhaus in Berlin zusammen. Die preußische wird umgehend auch zur deutschen Hauptstadt ernannt. Eine der ersten wichtigen Aufgaben des Parlaments ist es anschließend, die vorläufige Verfassung des Kaiserreichs vom ersten Januar 1871 zu überarbeiten. Sie wird Mitte April verabschiedet und geht anschließend als „Bismarcksche Reichsverfassung“ in die Geschichte ein.

Aufgaben des Reichstags

Der Reichstag nimmt als staatliche Institution im Deutschen Kaiserreich verschiedene Funktionen ein. So übt er zusammen mit dem Bundesrat, der Vertretung der Einzelstaaten auf nationaler Ebene und damit der deutschen Fürsten, die Gesetzgebung des Kaiserreiches aus. Tatsächlich ist aber der Bundesrat von der Verfassung neben dem Kaiser selbst als eigentliches Machtzentrum vorgesehen. Reichstag und Bundesrat verfügen über die Gesetzesinitiative, sie können demnach Gesetzentwürfe vorlegen. Nur mit Zustimmung beider kann anschließend ein Gesetz in Kraft treten.

Daneben ist es Aufgabe des Reichstags, den jährlichen Haushalt abzusegnen. Ausgenommen davon sind die Militärausgaben, die über einen längeren Zeitraum festgelegt werden. Auch gegenüber der Regierung hat das Parlament gewisse Kontrollrechte, so kann es den Reichskanzler etwa dazu auffordern, sich und sein Handeln vor den Abgeordneten zu erklären – wozu er allerdings nicht rechtlich verpflichtet ist. Auch hat der Reichstag keinen Einfluss auf dessen Ernennung. Diese Macht obliegt allein dem Kaiser. Und als wären dies nicht genug Einschränkungen, gibt die Verfassung dem Bundesrat zusätzlich noch das Recht, den Reichstag mit Billigung des Kaisers jederzeit aufzulösen.

Trotz dieser verfassungsrechtlichen Auflagen, denen der Reichstag unterworfen ist, entwickelt er sich für die Deutschen zu einem Symbol ihrer jungen Nation. Vor allem aber erzeugt er durch öffentlichkeitswirksame Debatten Interesse für politische Ereignisse und Zusammenhänge im Kaiserreich. Die deutsche Presse berichtet ausgiebig über die Debatten im Parlament. Aus den alltäglichen Gesprächen der Bürger*innen sind sie in der Folge nicht mehr wegzudenken.

Beitrag zur demokratischen Entwicklung in Deutschland

Mitglieder des Deutschen Reichstag, um 1889; Foto: Bundesarchiv, Bild 116-121-007 / CC-BY-SA 3.0.

Der ersten Wahl am 3. März 1871 folgen bis 1912 zwölf weitere. Danach finden kriegsbedingt – der Erste Weltkrieg bricht im August 1914 aus – keine mehr statt. Die Ergebnisse und entsprechend die Zusammensetzungen des Parlaments sind bis dahin von starken Verschiebungen zwischen den politischen Lagern geprägt. Der zu Beginn starke Liberalismus verliert stetig an Stimmen, ähnlich ergeht es dem Konservatismus. Durchgehend stabil bleibt dagegen das katholische Zentrum und gar einen rasanten Aufstieg erlebt die Sozialdemokratie. Sie wird schließlich zur stärksten Fraktion im Parlament. Auch die Wahlbeteiligung wächst kontinuierlich von 50,7 % bei der ersten Wahl auf satte 84,5 % 1912 an.

Hier ist der entscheidende Beitrag des Reichstags für die deutsche Demokratiegeschichte zu finden. Auch wenn die Funktionen dieses Parlaments von anderen Teilen des politischen Systems des Kaiserreichs, von der Verfassung gebilligt, untergraben werden konnten, ist die weitere demokratische Entwicklung in Deutschland ohne das zunehmende Interesse der Bevölkerung an politischen Abläufen und Vorkommnissen schwer vorstellbar. Dieses Bedürfnis wurde maßgeblich befriedigt von den parlamentarischen Debatten im Reichstag – auch mit einem Kaiser als Staatsoberhaupt.

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Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

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