Einen der wenigen Versuche, einmal zu formulieren, welche konkreteren Erwartungen es an „demokratisches Verhalten“ gibt, hat 2006 die Evangelische Kirche in Deutschland unternommen und die Stellungnahme „Demokratie braucht Tugend“ veröffentlicht. Darin gibt es – unter einem moraltheologischen Blickwinkel – auch ein Kapitel „Orientierungen für eine politische Tugendlehre aus christlicher Perspektive“. Skizziert werden Verhaltenserwartungen an vier Hauptgruppen von Akteuren im politischen Prozess der Demokratie: 1) Bürgerinnen und Bürger im Allgemeinen und die Wählerinnen und Wähler im Besonderen, 2) an die Politikerinnen und Politiker, 3) an Journalistinnen und Journalisten als Partner und Widerpart im politischen System, 4) an Repräsentanten partikularer Interessen im politischen Prozess.
Demokratische Tugenden
An die Bürgerinnen und Bürger formuliert die Stellungnahme zunächst die Akzeptanz der Verfassungsnorm als Erwartung. Dies mag wie eine Binsenweisheit klingen, doch dass dies im Praktischen nicht immer einfach ist, verdeutlich der Zusatz „zu ertragen […], überstimmt zu werden und dennoch den Mehrheitsbeschluss gelten zu lassen, wiewohl Mehrheit und Wahrheit zweierlei sind“. Als weitere Erwartung wird Verantwortung benannt. Die sie übernehmen, werden als Menschen beschrieben, die „sich nach Kräften um die Angelegenheiten kümmern, die sie selbst und diejenigen betreffen, für die sie Verantwortung tragen“. Nach dem Subsidiaritätsprinzip sei Hilfe erst von denjenigen zu beanspruchen, die sich tatsächlich nicht selbst helfen können.
Insgesamt legt die Stellungnahme ein starkes Gewicht auf die Wechselseitigkeit von Rechten und Pflichten. Zur Gemeinwohlorientierung gehört, „sich für die gemeinsamen Angelegenheiten [zu] interessieren, also bereit [zu] sein, sich zu informieren und zu engagieren“. Solidarität im Sinne des Bemühens um das Wohl anderer richtet sich nicht nur auf Mitmenschen, sondern auch gegenüber der Gesellschaft, ja gar der Weltgesellschaft. Eine weitere „demokratische Tugend“ wird als Vertrauen der Wählerinnen und Wähler in die Gewählten beschrieben. Demnach gehöre zum Agieren von Bürgerinnen und Bürgern in der Demokratie auch dazu, die Politik nicht zu schnell abzuurteilen, wenn nicht alle eigenen Wünsche erfüllt werden. Schließlich wird mit dem Wahlrecht auch eine besondere Verantwortung bei Wahlen angemahnt.
Erwartungen an Politiker:innen
Für Politikerinnen und Politiker stehen in der Stellungnahme Gemeinwohlorientierung und Orientierung an den Wünschen, Erwartungen, Befürchtungen und Sorgen der Wählerinnen und Wähler an erster Stelle der ausformulierten Verhaltenserwartungen. Ausdifferenziert wird dies mit einer besonderen Verantwortlichkeit.
Es gilt, zwischen konkurrierenden Forderungen und Erwartungen auszugleichen und angesichts von Unvereinbarkeiten Entscheidungen zu treffen; zudem aus der Überfülle des Wünschbaren das Dringliche herauszufiltern. Zugleich sollen auch Gruppen mitbedacht werden, die zahlenmäßig bei Wahlen kein großes Stimmgewicht haben. Verantwortung besteht auch gegenüber jenen, die heute noch keine Stimme haben; eine Zukunftsdimension. Um diese Verhaltenserwartungen überhaupt überfüllen zu können, sei es – laut der Stellungnahme – wünschenswert, wenn Politikerinnen und Politiker folgende persönliche Eigenschaften hätten: Mut, Risikobereitschaft, Standfestigkeit und auch Glaubwürdigkeit.
Natürlich kann aus dem Vorgenannten kein abschließender Kriterienkatalog für wünschenswertes Verhalten in einer und für die Demokratie abgeleitet werden. Wohl aber kann dies anregen, darüber nachzudenken, welche – unterschiedlichen und vielfältigen – Verhaltensweisen in der Demokratie als Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform förderlich sein können. Denn nur wer Erwartungen an einen Gegenstand formuliert, kann auch in der Gegenüberstellung ermessen, wie die tatsächlichen Erfahrungen in der Praxis sind.
Ambivalente Erwartungen
Eine beispielhafte Studie in Thüringen unter Jugendlichen hat 2019 in diesem Sinne nach normativen Erwartungen an die Demokratie und Erfahrungen mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland gefragt. Dafür wurden 17 Erwartungen als Parameter abgefragt. Diese werden hier in der Hierarchie aufgeführt, die sich in den Umfrageergebnissen zeigte:
- wahrhaftig sein
- Konsens anstreben
- kompromissbereit sein
- Unmöglichkeit von Konsens anerkennen
- soziale Ungerechtigkeit verringern
- globales Wohlergehen bevorzugen
- verschiedene Meinungen unter den Bürgern
- Bürgerwillen folgen
- Mehrheitswillen folgen
- Meinungen von Minderheiten achten
- Bürger vor Selbstschädigung schützen
- Selbstverantwortung der Bürger achten
- Bürger an Volkswillen anpassen
- standhaft bleiben
- am Gemeinwohl orientieren
- Einkommensunterschiede nicht verringern
- unser Wohlergehen bevorzugen
Bei Betrachtung dieser Erwartungen fällt auf, dass das erwünschte Verhalten vielfältig – und durchaus auch gegensätzlich ist. So wünschen sich die Befragten auf der einen Seite Kompromissbereitschaft und erwarten auf der anderen Seite, das auch anerkannt werden muss, wenn kein Konsens möglich ist. Diese Ambivalenz muss deutlich benannt werden.
Besonderes Verhalten in und für die Demokratie ist eben immer auch situationsabhängig. Es gibt nicht „die“ Verhaltensweise als Alleinrezept, die immer und in allen Fällen greifen kann. Vielmehr gibt es ein sehr vielfältiges, breites und teils widersprüchliches Spektrum an Aktionsmöglichkeiten, die in unterschiedlichen Kontexten zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Das Leben ist komplex. Dies gilt auch, wenn es um Einstellungen und Handlungen geht, die beeindrucken und Orientierung geben können.
Teil I dieses Beitrags ist hier zu finden.
Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus der Publikation Vorbilder der Demokratiegeschichte. Handlungen und Einstellungen, die beeindrucken und Orientierung geben können. Diese und weitere Veröffentlichungen von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. können kostenfrei in der Geschäftsstelle bestellt werden und stehen hier zum Download zur Verfügung.
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