Demokratiegeschichten

Vom Protest zur Kommunalpolitik – Die Gründungsgeschichte des Ortsverbandes der GRÜNEN in Telgte (I)

Eine neue Partei im Bundestag

Als sich am 29. März 1983 der zehnte Deutsche Bundestag konstituiert, ist dies für die bundesdeutsche Parlamentsgeschichte ein bedeutsamer Tag. Die „Protestpartei“, die Grünen, zieht zum ersten Mal in den Bundestag ein.  Die Grünen haben sich erst drei Jahre zuvor als Bundespartei gegründet und bei der Wahl am 6. März ein Ergebnis von 5,6 Prozent der Wählerstimmen erreicht. Diese Partei ist aus den Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre entstanden. Sie bleibt von da an eine vierte Kraft im Parteiensystem und nimmt Einfluss auf Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik.[i] Die vielen Initiativen der grünen Bewegung, aber auch die Friedensbewegung, die Frauenbewegung, die Anti-AKW-Bewegung und andere außerparlamentarische Protestbewegungen haben von nun an ein parlamentarisches Standbein.

Gründung des Ortsverbandes der Grünen in Telgte

Nur zwei Wochen später, am 12. April 1983, treffen sich in der sehr konservativ geprägten Kleinstadt Telgte, katholischer Wallfahrtsort im Münsterland, eine örtliche Gruppe von Unterstützern der Grünen und gründen den Ortsverband der Grünen in Telgte.  Die Bundestagswahl mit einem Ergebnis von 6% der Wählerstimmen in Telgte für die grüne Bundespartei und die Europawahl im Juni 1983 – hier sind es sogar 8,35 % der abgegebenen Stimmen für die Grünen – macht sie optimistisch.

Das Ergebnis bei der Kommunalwahl am 30. September 1984 übertrifft dann alle Erwartungen: Der junge Ortsverband der Grünen erringt 11,28% der abgegebenen Wählerstimmen und zieht mit vier Sitzen in den 41-köpfigen Stadtrat ein. Eine politische Zeitenwende ist in Telgte, in der die CDU-Ortsunion seit Jahrzehnten mit absoluter Mehrheit im Stadtrat entscheidet, eingeläutet. Eine Gruppe engagierter und zum größten Teil sehr junger Leute bestimmt von nun an in zunehmendem Maße die Kommunalpolitik des Ortes mit und setzt sich für die ihr wichtigen Themen ein, wie beispielsweise Frieden und Lagerung von Atomwaffen, offene Jugendarbeit, Umweltschutz, Frauenrechte, Rechte ausländischer Mitbürger.       

Vorgeschichte

Die Vorgeschichte zu dieser überraschenden Entwicklung beginnt bereits Anfang der 1970er Jahre, als in Telgte die ersten Bürgerinitiativen entstehen. Bis Anfang der 1980er Jahre hat sich dann eine für die konservative, ländlich gelegene Kleinstadt Telgte erstaunlich hohe Anzahl von zwölf Bürgerinitiativen gebildet. Die überwiegende Mehrzahl dieser Initiativen protestiert gegen verkehrs- und stadtplanerische Entscheidungen.

Bürgerproteste

Besonders großen Protest gibt es zum Beispiel im Zusammenhang mit den Verzögerungen beim Bau einer Umgehungsstraße. Diese ist schon in den 1950er Jahren geplant und wird mit vielem Hin und Her erst 1986 verwirklicht. Bis dahin geht die Bundesstraße von Münster Richtung Bielefeld und Paderborn und umgekehrt auf engen Straßen mitten durch die Altstadt Telgtes. Das bedeutet Unfälle und vielfältige Belastungen für die Innenstadtbevölkerung Telgtes.

Der Höhepunkt des Protestgeschehens der Altstadtbevölkerung liegt im Jahr 1981, drei Jahre vor der Kommunalwahl. Die vielfältigen Bürgerinitiativen gehen vor Gericht, wenden sich mit Petitionen an den Landtag und schalten die Presse ein. Auch Straßenproteste (Zitat auf einem Plakat: „Denk ich an Telgte in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.“) werden durch eine der Initiativen organisiert. Allerdings sind und bleiben ihre Anliegen örtlich begrenzt.

Diese sogenannten Ein-Punkt-Bewegungen, in denen zum Teil auch Vertreter der örtlichen, etablierten Parteien engagiert sind, stellen ihre Probleme nicht in einen größeren politischen Zusammenhang. Sie vernetzen sich nicht überregional mit einer bundesweiten grünen Wahlbewegung.[ii] 


Der Marktplatz in Telgte vor 1986: Parkende PKW und Bundesstraße. In heutiger Zeit bietet der Platz Raum für Feste und Veranstaltungen. Quelle: Stadtarchiv Telgte.

Bedeutung der Bürgerproteste für die Gründungsgeschichte der Grünen in Telgte

Sie sind nur indirekt an der Gründung des Ortsverbandes der Grünen in Telgte beteiligt, indem sie öffentlich machen, wieviel Unzufriedenheit es mit den etablierten Parteien gibt. Sie zeigen auf, dass der gesamtgesellschaftliche Wandel zu „mehr Demokratie wagen“ auch vor den Stadttoren Telgtes nicht Halt gemacht hat. In der Bevölkerung gibt es deutlich den Wunsch nach mehr politischer Mitgestaltung und größerer Transparenz bei politischen Entscheidungen.

Und sie lassen erkennen, dass dieser Wunsch in Telgte auf politische Entscheidungsträger trifft, die auf althergebrachten hoheitlichen Strukturen beharren. Eine kleine Gruppe dominierender Politiker, zumeist Paohlbürger aus dem traditionell bäuerlich-handwerklich-mittelständischen Bereich, besteht aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung in der Stadt auf ihrem Machtanspruch.

In diesem Spannungsfeld tragen diese Ein-Punkt-Bewegungen zu einer gewissen Normalisierung von öffentlichen Protestaktionen bei. Die Beteiligten erfahren dabei, dass Politik auch außerhalb etablierter Institutionen erfolgreich sein kann. Ihr wohl wichtigster Beitrag ist es aufzuzeigen, dass es Potential für eine vierte Partei in Telgte gibt.


Informationen zur Autorin: Christine Crne, 67 Jahre, pensionierte Englisch- und Wirtschaftslehrelehrerin an einem Münsteraner Berufskolleg. Studium im Alter seit Wintersemester 2021/22. 

Der Beitrag fasst Aussagen des Aufsatzes der Verfasserin mit gleichlautender Überschrift zusammen. Die Arbeit wurde im Rahmen des Studiums im Alter an der Universität Münster verfasst. Sie wurde im Sommer 2024 im Internet als pdf-Datei auf der offiziellen Publikationsplattform der Universität Münster veröffentlicht.


Literaturhinweise

[i]         Mende, Silke: „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, S. 478.

[ii]        Mende: Gründungsgrüne, S.45.

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