Tschernobyl. Jetzt liest man diesen Namen wieder, weil dort die Wälder brennen. Ich habe das Wort Tschernobyl mit 13 Jahren gelernt, so wie heute Kinder und Jugendliche die Worte Corona und Covid-19. Tschernobyl wurde 1986 schnell zum Symbol für eine Gefahr, die man nicht sehen konnte: atomare Strahlung. Was geschah damals und wie wurde darauf reagiert?
Der Super-Gau
Am 26. April 1986, heute vor 34 Jahren, gerät um 1.23 Uhr in der Nacht der Reaktor 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl in der Ukraine während eines Tests außer Kontrolle. Eine Verkettung von unglücklichen Umständen, technischen Defekten, baulichen Mängeln und menschlichem Versagen führt zur Kernschmelze und zu zwei Explosionen, die den Reaktormantel zerstören. Hochradioaktives Material wird nach außen geschleudert. Im Reaktor und im Außenbereich der Anlage brennt es. Eine radioaktive Rauch-und Staubwolke steigt in den Himmel.
Erst am 6. Mai sind die Brände im zerstörten Reaktor gelöscht und die Freisetzung von Radioaktivität gestoppt. Der Super-GAU, der Größte Anzunehmende Unfall in einem Kernkraftwerk mit Austritt von Radioaktivität in die Umwelt, hat stattgefunden. Auch diese Vokabel habe ich 1986 gelernt.
Sowjetisches Krisenmangement
Es vergehen 36 Stunden, bis die 49 000 Einwohner der nur vier Kilometer vom Reaktor entfernten Stadt Prypiat evakuiert werden. Und erst nach mehreren Tagen wird das Gebiet im Umkreis von 30 km um das Kernkraftwerk zur Sperrzone erklärt und evakuiert. Um die Brände zu löschen, radioaktives Material aus der Umgebung einzusammeln und den zerstörten Reaktor mit Blei und Beton zu ummanteln, werden zwischen 600.000 und 800.000 sogenannte Liquidatoren, zumeist Armeeangehörige, aber auch Zivilisten aus der ganzen Sowjetunion eingesetzt. Niemand weiß exakt, wie hoch die atomare Strahlung, die diese Menschen abbekommen haben, genau war.
Auch die Opferzahlen sind noch heute völlig unklar, weil offizielle Statistiken fehlen: Je nach Bericht sind es einige Tausende oder aber bis zu 1,4 Millionen Todesopfer als Folge der Katastrophe weltweit. Besonders auffällig aber ist die sowjetische Informationspolitik oder besser gesagt: Schweigepolitik.
Alarm in Schweden
Noch zwei Tage nach dem Unfall ist man in Europa ahnungslos, während die atomare Staubwolke in Richtung Westen zieht. Am 28. April wird im schwedischen Kernkraftwerk Forsmark nördlich von Stockholm Atomalarm ausgelöst, der Grund: die gemessenen Strahlenwerte sind viel zu hoch. Als ausgeschlossen werden kann, dass das eigene Kernkraftwerk die Ursache ist, richtet sich der Verdacht aufgrund der Wind- und Wetterverhältnisse auf die Sowjetunion. Irgend etwas muss dort passiert sein…
Spärliche Informationen
Schweden informiert die Öffentlichkeit und siehe da: Am Abend des 28. verbreitet die sowjetische Nachrichtenagentur TASS eine Kurzmeldung zu einem Unfall in Tschernobyl. Ab jetzt haben die Medien in Westeuropa nur noch ein Thema: Tschernobyl und die Folgen. Nach wie vor weiß man wenig aus dem Katastrophengebiet, nur scheibchenweise geben offizielle sowjetische Stellen Informationen heraus. Statt auf Tatsachen stützen sich westliche Medien auf Mutmaßungen und Einschätzungen von tatsächlichen oder selbsternannten Experten. Und die bange Frage, die überall gestellt wird, ist: Wie hoch ist die Strahlenbelastung bei uns und wie gefährlich ist sie?
Die Historikerin Melanie Arndt, frischgebackene Professorin für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte an der Universität Freiburg, hat die Reaktionen auf den Super-GAU von Tschernobyl in Deutschland untersucht und zahlreiche Aufsätze und Bücher dazu veröffentlicht.
Keine Gefahr in Deutschland?
Die ersten Reaktionen der Regierungen in der DDR und der Bundesrepublik ähnelten sich laut Melanie Arndt mehr als man denkt: Keine Gefahr, lautete in beiden deutschen Staaten die offizielle Devise. Die deutschen Kernkraftwerke seien sicher, so ein Vorfall wie in Tschernobyl in Deutschland undenkbar. Der ukrainische Reaktor sei außerdem so weit weg, dass eine Gesundheitsgefährdung der deutschen Bevölkerung ausgeschlossen sei.
Meinungslenkung im Osten
Bald aber beeinflussten die Systemunterschiede zwischen der Bundesrepublik und der DDR den Umgang mit der Katastrophe deutlich. Die DDR hielt die These „alles ist sicher und es besteht keine Gefahr“ lange aufrecht. Andere Meinungen wurden konsequent unterdrückt. Eigene Messungen, die bedenkliche Strahlenbelastungen zeigten, wurden verheimlicht, ebenso die erheblichen Mängel in den eigenen Kernkraftwerken.
Vielstimmig im Westen
In der Bundesrepublik sah die Lage anders aus. Bund, Länder und Kommunen schätzten die Bedrohung durch die unsichtbare Strahlung unterschiedlich ein. Einheitliche Richtlinien gab es nicht, denn die Strahlenschutzverordnung von 1976 hatte die Möglichkeit eines grenzüberschreitenden Reaktorunfalls außerhalb von Deutschland nicht eingeplant. Vielstimmiges Chaos war die Folge. So wechselten Warnmeldungen, Beschwichtigungen und Entwarnungen einander ab. Die Probleme zeigten sich besonders bei der Festlegung eines Grenzwertes für strahlenbelastete Lebensmittel. Den Grenzwert, den die Bundesregierung z.B. für Milch festsetzte, wurde von einigen Bundesländern als viel zu hoch eingeschätzt. Sie und auch einige Städte legten eigene Grenzwerte fest und zogen Milch auf eigene Faust aus dem Verkehr.
Allgemeine Verunsicherung
Die Bevölkerung war völlig verunsichert. Ist der Regen atomar verseucht? Darf man überhaupt noch raus? Sollen wir lieber Milchpulver kaufen? Was ist mit dem Salat aus Opas Garten? Auch meine Familie und ich stellten uns damals diese Fragen. Und wir schauten nun häufig auf die beiden Kühltürme des 20 km entfernten Kernkraftwerks Philippsburg, die wir am Horizont sehen konnten. War das wirklich sicher?
Ein Ministerium wird gegründet
Nach einigen Wochen nahm die Unsicherheit wieder ab und das Kompetenzchaos lichtete sich. Ein wichtiger Schritt dabei war die Gründung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit am 6. Juni 1986 . Es hatte den Auftrag, sich um die Folgen der Reaktorkatastrophe und um allgemeine Umweltprobleme zu kümmern. Damit wurden die Kompetenzen, die vorher auf verschiedene Ministerien verteilt waren, gebündelt.
„Tschernobyl ist überall“
Die damalige CDU-FDP-Bundesregierung wurde von der Opposition aus Grünen und SPD wegen des Informationschaos heftig kritisiert. Auch stand die Frage nach der Zukunft der Kernenergie im Raum. Die SPD forderte den schrittweisen Rückzug, während die Grünen für den sofortigen Ausstieg plädierten. Mit dem Slogan „Tschernobyl ist überall“ brachten sie die Sorgen vieler Bürger*innen zum Ausdruck. Die Anti-Atomkraft-Bewegung in der Bundesrepublik erhielt durch Tschernobyl enormen Auftrieb. Auch in der DDR war das Thema Atomenergie in oppositionellen Gruppen nicht mehr wegzudenken. Vor allem in der evangelischen Kirche wurde es immer wieder diskutiert.
Kein Ausstieg
Obwohl kurz nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl die Mehrheit der westdeutschen Bürger*innen für einen sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie waren, setzte die Bundesregierung weiter auf Atomstrom. Erst die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima im März 2011 trieb die Ausstiegspläne entscheidend voran. Ende 2022 sollen die letzten deutschen Atomkraftwerke vom Netz gehen.
Die Historikerin Melanie Arndt im Interview.
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