Während sich aktuell das Corona-Virus seinen Weg um die Welt bahnt, machten die Viren im Kalten Krieg zwischen Ost- und Westdeutschland anscheinend halt. Die Mauer war dicht. Auch eine Aufnahme von Patienten in Krisenzeiten über die Grenzen hinweg wäre nicht denkbar gewesen.
Stattdessen wurden Epidemien zum Spielball der Propaganda in Ost und West. Der Umgang mit Seuchen mutierte zum Gradmesser für staatliche Leistungsfähigkeit und das „gesündere“, also bessere politische System.
Die Ruhr greift in der DDR um sich
Ostberlin Ende März 1962. Vermehrt bitten Ostberliner ihre Hausärzte um einen Besuch. Sie klagen über Fieber, Darmkatarrh und Durchfall. Die Diagnose: Ruhr. In nur wenigen Tagen breitet sich die Krankheit durch Kontaktinfektion explosionsartig aus. Bis Ende April 1962 erkranken in Ost-Berlin und auf dem Gebiet der DDR etwa 75.000-100.000 Personen an der Ruhr. Auch Tote sind zu beklagen. Bald reicht vor allem in Berlin die Kapazität der Krankenhäuser nicht mehr aus. Hilfskrankenhäuser müssen eingerichtet werden. Zehntausende DDR-Bürger werden in Notkrankenhäusern in Quarantäne gesteckt. Vor jedem Amt und im Eingang jeder öffentlichen Einrichtung steht eine Schüssel mit Desinfektionslösung und niemand kommt am Pförtner vorbei, ohne die Hände da hineingetaucht zu haben.
Die Regierung der DDR schweigt zunächst
Erst sechs Tage nach Ausbruch der Epidemie erfahren die Berliner, dass sie von der Ruhr heimgesucht wurden. Bis dahin erhält weder in Ostberlin noch in der übrigen DDR jemand offiziell Kenntnis von der Epidemie. Dann, am 4. April, bricht die Regierung das Schweigen. Auf der Titelseite des Neuen Deutschland – der zentralen Zeitung der Regierung – ermahnt Medizinalrat Dr. Hoeck zur Vorsicht und zum gesteigerten Gebrauch von Wasser und Seife.
Quelle der Infektion waren Ruhrbazillen in Butter, die in Berlin verkauft wurde. Zum Teil wurde diese Butter aus der Sowjetunion importiert. Davon galt es abzulenken. Denn weder das Ansehen des großen sozialistischen Bruders, noch das Ansehen der jungen DDR, die nur wenige Monate zuvor die Grenzen geschlossen hatte, sollte in Mitleidenschaft geraten.
Doch mit der Ausbreitung der Ruhr steigt der Druck der Ärzte auf den Ministerrat, umfassend zu informieren. In verschiedenen Zeitungen der DDR ermahnt die „Ruhrkommission“ am 8. April die Bewohner der DDR zur Einhaltung verstärkter Schutzvorkehrungen:
- umfangreiche Desinfektionsmaßnahmen,
- Ein- und Ausreisesperre für Berlin,
- Besuchsverbot für Krankenhäuser mit Ruhrpatienten,
- Absage aller größeren Veranstaltungen in Berlin und den anderen betroffenen Gebieten.
Epidemien, ein gefundenes Fressen für die Presse in Ost und West
Schnell entdeckten die westdeutschen Medien das Thema. Nun konnten sie den Spieß herumdrehen. Denn zuvor hatte die DDR eine Presse-Kampagne gegen Westdeutschland angesichts der Pocken-Epidemie in der BRD geführt. Für den westdeutschen SPIEGEL waren die Ursachen der Ruhrseuche in der DDR schnell klar. Unter dem Titel „Bazillen vom Staat“ wird diagnostiziert: „infizierte Lebensmittel und mangelhafte gesundheitliche Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung infolge einseitiger Ernährung“. (DER SPIEGEL 18.4.1962) In Ost-Berlin und Ostdeutschland hingegen füllten sich die Zeitungen mit Berichten über das gute Gesundheitswesen in der DDR. In Lokalberichten wurde dargestellt, wie besonnen die Ärzte arbeiten und über alle notwendigen Kenntnisse und Mittel verfügen, um die Epidemie zu bekämpfen. Damit sollten nicht nur die Menschen in der DDR beruhigt werden. Ebenso hoffte die DDR-Regierung, damit den westdeutschen Medien den Boden für schlechte Presse gegen die DDR zu entziehen.
Die Schräglage dieser Situation brachte ein Reporter der ZEIT im April 1962 auf den Punkt:
„In unserem Tal des deutschen Jammers ist Krankheit nicht mehr für alle ein beklagenswerter, hilfeheischender Zustand, sondern oft eher Anlaß zu politischer Auseinandersetzung. Die Pockenkranken in der Bundesrepublik gelten den Kommunisten als Produkte des kapitalistischen Systems, die Ostberliner Ruhrepidemie ist für einige unserer Publizisten eine direkte Konsequenz der Mauer. Die Brüder und Schwestern von der anderen Mauerseite konnten, so erzählt man uns, ihren Haushalt an Vitaminen nicht mehr durch Einkäufe in Westberlin anreichern. Daher seien sie wehrlos Opfer der Infektion geworden.“
DIE ZEIT, 13. April 1962
Wettbewerbsbühne: Epidemie
Während des Kalten Kriegs eröffnete der Wettbewerb um das bessere Gesellschaftsmodell eine Art Arena zwischen Ost und West. In dieser Arena stritten die Bundesrepublik und DDR u.a. um die bessere medizinische Versorgung. Dabei war der Zusammenhang zwischen Epidemien und Staatlichkeit weitaus schwerwiegender als heute. Während aktuell Corona-Patienten aus Italien und Frankreich zur Behandlung nach Deutschland geholt werden, weil Deutschland mehr Kapazitäten hat, wäre das in den Jahren des Kalten Krieges nicht denkbar gewesen. Wohl wären die Patienten aus Frankreich und Italien in die BRD gekommen, aber nicht in die DDR. Damals galt: Westverbündete helfen sich gegenseitig, Ostverbündete helfen sich gegenseitig
Mitunter gingen politische Abneigungen über die Gesundheit der eigenen Bürger. Angesichts einer Polio-Epidemie im Ruhrgebiet 1961 bot Willi Stoph (das spätere Staatsoberhaupt der DDR) dem westdeutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer die Zusendung ostdeutscher Impfstoffe an. Die DDR hatte mit dem Impfstoff bereits gute Erfolge erzielt. Bei der Westpresse wurde das Angebot positiv wahrgenommen. Das Bundesgesundheitsministerium hingegen tat die Initiative – nicht zu Unrecht – als Propagandatrick ab. Konrad Adenauer folgte dieser Einschätzung und lehnte dankend ab. Diese Ablehnung stieß in der westdeutschen Bevölkerung auf Kritik.
Epidemien als Gradmesser staatlicher Leistungsfähigkeit im Kalten Krieg
Epidemien waren zu Zeiten der deutschen Teilung kein Thema, das selbstlos helfende Hände mobilisiert hätte. (Wie gut, dass wir das aktuell anders erleben!) Vielmehr stellte damals die Verbreitung von Infektionskrankheiten dem „Systemgegner“ ein schlechtes Zeugnis aus. Und es erhöhte die Bedeutung der eigenen Seuchenbekämpfung. Hinzu kam, dass Vorsorge- und Quarantänemaßnahmen nicht nur die Bedürfnisse der Staatsbürger befriedigten. Ebenso konnte der Staat selbst nach außen seine Überlegenheit demonstrieren.
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