Demokratiegeschichten

Sage ihre Namen, lies ihre Geschichte

Kurz nach den rassistischen Morden in Hanau am 20. Februar 2020, die neun Menschen das Leben kosteten, tauchte im Netz der Hashtag #SayTheirNames auf – sage ihre Namen. Dahinter stand das Anliegen, die Opfer in den Mittelpunkt zu rücken, nicht nur über den Täter zu reden.

Denn wenn es um die Urheber rassistischer Anschläge geht, ist die öffentliche Aufmerksamkeit meist groß. Zum Beispiel kennt fast jeder die Namen der NSU-Terroristen. Aber wer kennt die Namen ihrer Opfer, oder hat sie wenigstens einmal bewusst zur Kenntnis genommen?

Die Frage nach den Namen scheint auf den ersten Blick vielleicht auch nicht die bedeutendste zu sein. Doch Namen sind wichtig. Sie stehen nicht nur für schwarze Buchstaben auf weißem Grund. Namen zu nennen bedeutet, geschehenes Leid anzuerkennen, den Opfern Respekt zu zollen, im weiteren Sinne auch: Solidarität zu zeigen. Viele Opfer und Angehörige warten auch nach Jahren oder Jahrzehnten noch auf Respekt und Anerkennung. Einige Betroffene mit Migrationsgeschichte berichten, dass sie resignieren, sich fremd fühlen in der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind und in der sie dachten zuhause zu sein.

Im Einsatz für die Belange der Opfer

Auch Ibrahim Arslan könnte es so gehen. Er ist Überlebender des rechtsextremen Brandanschlages auf das Wohnhaus seiner Familie in Mölln von 1992, verlor als siebenjähriges Kind in der Brandnacht seine Schwester Yeliz, seine Großmutter Bahide und seine Cousine Ayse Yilmaz. Anschließend wurde zunächst sein Vater Faruk verdächtigt, weil er in der betreffenden Nacht nicht zuhause war. Doch auch nachdem schnell klar geworden war, dass es sich um rechtsextreme Täter handelte, weigerte sich der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, zur Trauerfeier nach Mölln zu fahren. Später musste die Familie um ihre Entschädigungen kämpfen. Nur von Freunden und Verwandten erfuhren die Familienmitglieder Unterstützung, von offiziellen Stellen fühlten sie sich mitunter wie als Statisten behandelt.

Ibrahim Arslan bei seiner Auszeichnung als Botschafter für Demokratie und Toleranz in Berlin 2017. Foto: bpb/ André Wagenzik

Aber Ibrahim Arslan wollte nicht resignieren, und auch nicht vor seiner posttraumatischen Belastungsstörung kapitulieren. Arslan engagiert sich stattdessen seit Jahren für die Demokratie, wendet dafür große Teile seiner Freizeit auf. Und deshalb steht dieser Text auch hier auf dem Demokratiegeschichten-Blog. Weil Ibrahim Arslan einen geraden, vorbildlichen Weg geht, der auch anderen Betroffenen Mut und Stärke verleihen kann. Und der viele Menschen zum Nachdenken bewegt.

Botschafter für Demokratie und Toleranz

Ibrahim Arslan geht unter anderem für Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. als Zeitzeuge in Schulen, Universitäten und zu Podiumsveranstaltungen, zeigt den Dokumentarfilm „Nach dem Brand“ über das Leben seiner Familie nach dem Anschlag. Er diskutiert mit Schülern und setzt sich dabei natürlich auch Unverständnis und Anfeindungen aus. Sein Anliegen stets: den Betroffenen Gehör zu verschaffen. Und damit auch dem Gedenken an seine Großmutter, Schwester und an seine Cousine gerecht zu werden, die anders als er den Brandanschlag 1992 nicht überlebt haben. Er ist sicher, wenn wir uns mehr mit den Betroffenen beschäftigen und ihnen Sympathie entgegenbringen, ist das auch ein Beitrag dazu, dass solche Taten sich künftig nicht mehr wiederholen.

Für sein Engagement ist Ibrahim Arslan mittlerweile zum Botschafter für Demokratie und Toleranz ernannt worden. Er hat Kontakte zu zahlreichen anderen Opfern und Angehörigen geknüpft, sich ein Netzwerk geschaffen.

Fotoband: Die Angehörigen

Außerdem hat er nun gemeinsam mit dem Fotografen Jasper Kettner einen ungewöhnlichen Bildband mit dem Titel „Die Angehörigen“ herausgegeben. Auf dem Buchcover stehen nicht wie gewöhnlich die Herausgeber und der Titel, sondern:  viele Namen. Namen von Opfern rechter Gewalt. Im ersten Teil des Buches sieht man Porträtfotos von Angehörigen. Sie wurden an selbst gewählten Orten aufgenommen, die sie mit den Opfern verbinden, um die sie trauern. Die Fotografien sprechen eine leise Sprache, häufig sind es Schatten, die den Bildern ihre Tiefe und ihr Gewicht verleihen.

Melek Bektas ist eine der Angehörigen, die sich von Jasper Kettner fotografieren lies. Sie steht hier im Zimmer ihres Sohnes Burak, der 2012 in Berlin ermordet wurde. Foto: Jasper Kettner

Erst im zweiten Teil des Buches stehen Texte, es sind Erinnerungen der Angehörigen an die Menschen, die sie verloren haben. Es sind aber auch Berichte über Schwierigkeiten, angemessene Formen des Gedenkens zu finden, es sind Zeugnisse der Wut oder Hilflosigkeit darüber, dass von der Polizei häufig nicht ausgiebig genug ermittelt wurde, dass die Betroffenen von ihrer Umgebung oft Stigmatisierung statt Anteilnahme erfahren haben.

Dies betrifft nicht ausschließlich die Opfer des NSU-Terrors, sondern auch Fälle zum Beispiel aus den 1980er-Jahren, die in Vergessenheit geraten sind und in den gängigen Zählungen von Todesopfern gar nicht auftauchen. Denn die beginnen meist erst mit dem Zeitpunkt der Vereinigung Deutschlands.

Ibrahim Arslan und Jasper Kettner fassen den Blick hingegen weit. Und sie ordnen zunächst nicht ein, prüfen nicht, sondern überliefern die subjektive Sicht der Betroffenen. Dies kann man kritisieren. Man kann aber auch sagen: wurde mal Zeit, endlich!

Sagen wir also ihre Namen, lesen wir ihre Geschichte, nehmen wir die Perspektive ihrer Angehörigen wahr!

In dem Band „Die Angehörigen“ geht es um Nguyen Ngoc Chau, Adrian Maleika, Antonio Manuel Diogo, Mete Eksi, Ayse Yilmaz, Ingo Ludwig, Armela Segashi, Atilla Özer, Do Anh Lan, Bahide Arslan, Theodoros Boulgarides, Rudi Dutschke, Celalettin Kesim, Yeliz Arslan, Frank Bönisch, Oury Jalloh, Alexander Selchow, Ramazan Avci, Amadeu Antonio, Burak Bektas, Nuno Lourenco, Süleyman Taskopru, Stefan Grage, Ignaz, Ilona und Wilhelm Platzer, Elisabeth Martin, Bruno Kappi, Ferdane Satir, Cigdem Satir, Ümit Satir, Songül Satir, Zeliha Turhan, Rasim Turhan, Tarik Turhan, Falko Lüdtke, Bernd Köhler, Yaya Jabbi, Carlos Conceicao, Torsten Lamprecht, Fatma E., Sylvio Amoussou, Ufuk Sahin und Semra Ertan, und um die Menschen, die ihnen nahe waren.

Der Band „Die Angehörigen“ von Jasper Kettner und Ibrahim Arslan ist leider bereits vergriffen. Eine erweiterte Neuauflage ist zwar in Planung, doch die Finanzierung ist noch ungeklärt. Durch die Corona-Krise ist zudem eine Weiterarbeit an Fotos und Texten momentan unmöglich. 15 der Porträts sind jedoch in eine Ausstellung über das Buch aufgenommen worden, die eigentlich gerade in Dresden zu sehen sein sollte. Auch in Chemnitz und Köln soll sie noch gezeigt werden. Momentan sind diese Ausstellungen zwar nicht möglich, doch die Porträts sind auf der Homepage des Fotografen Jasper Kettner zu sehen. Dort stehen auch seine Kontaktdaten für Interessierte, die gern eine Ausstellung mit den Fotografien organisieren oder das Projekt unterstützen wollen.

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Über uns 
Liane Czeremin ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin und zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.

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