Rupert Neudeck – schon mal gehört? Der deutsche Journalist startete ab 1979 mehrere humanitäre Hilfsaktionen. Bekannt war er vor allem für sein Lebenswerk, die Initiative Cap Anamur – Deutsche Not-Ärzte e.V. Mit gecharterten Schiffen gelang es Neudeck zwischen 1979 und 1986 über 10.000 Menschen auf ihrer Flucht aus Südvietnam aus dem südchinesischen Meer zu retten. Wie bei vielen späteren Aktionen folgte Neudeck dabei dem „Prinzip der radikalen Humanität“ – Menschen helfen, Leben retten und das um jeden Preis. Sein Engagement brachte ihm oft Kritik ein. Heute vor sechs Jahren, am 31. Mai 2016, starb Rupert Neudeck in Folge einer Herzoperation.
„Nie mehr feige sein, nie mehr nur zuschauen“
Geboren am 14. Mai 1939 erlebte Rupert Neudeck 1945 als Kind die Flucht seiner Familie aus Danzig. Diese Fluchterfahrung prägte ihn, nach eigener Aussage, sein Leben lang. Vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus als Ursprung sämtlichen Übels nahm er sich vor: „Nie mehr feige sein, nie mehr nur zuschauen“. Daraus leitete er als Erwachsener auch die persönliche Aufgabe ab, weltweit hungernden und flüchtenden Menschen zu helfen. Rückhalt erhielt er hierfür von seiner Familie. Schließlich gründete er das Hilfskomitee „Ein Schiff für Vietnam“ 1979 gemeinsam mit seiner Frau Christel Neudeck. Zeit seines Lebens arbeiteten die beiden als Team in weltweiten Einsätzen zusammen. Neudecks Vermächtnis wird heute zum Teil von seiner Tochter Yvonne Neudeck fortgeführt.
Nicht zuletzt war es sein eigener, christlicher Glaube der Neudeck zu seinem starken Engagement anspornte. In den 1960er Jahren hatte er sogar sein Studium unterbrochen, um den Jesuiten nachzufolgen. Letzten Endes wandte er sich aber doch wieder seinem Studium zu, promovierte in Philosophie und arbeitete fortan als freier Journalist.
Ein Schiff für Vietnam
Bekannt wurde Rupert Neudeck schließlich als Aktivist mit der umfangreichen Bergungsaktion von über 10.000 sogenannten Boat People aus dem südchinesischen Meer. Seit dem Sieg der nordvietnamesischen Vietcong 1975 wagte über eine halbe Million Menschen aus Südvietnam die Flucht über das südostasiatische Meer. Auf ihrem Weg starben viele durch Seuchen, Hunger, Durst, ertranken oder fielen Piraten in die Hände. Wie viele andere Deutsche erfuhren Rupert Neudeck und seine Frau Christel von der katastrophalen Lage der sogenannten Boat People über die zahlreichen Bilder und Berichte, die weltweit im Fernsehen ausgestrahlt wurden. Ein weiterer Anstoß für ihr späteres Vorhaben war die Begegnung Rupert Neudecks mit dem französischen Philosophen André Glucksmann, der bereits ein Rettungsschiff in das südostasiatische Meer ausgesandt hatte. Schnell war dem Ehepaar klar: Auch wir müssen helfen. Hals über Kopf stürzten sie sich in die Arbeit.
Zunächst kontaktierte Rupert Neudeck mehrere Freunde und Bekannte und bat sie um ihre Mithilfe. So konnte er unter anderem den Schriftsteller Heinrich Böll für seine Idee begeistern. Im August 1979 gründeten sie das Hilfskomitee „Ein Schiff für Vietnam“. Mithilfe von Spendengeldern, die unter anderem durch die Bekanntmachung des Projektes im deutschen Fernsehen eingeworben werden konnten, charterte die Initiative einen Frachter. Bereits Mitte August 1979 startete die erste Rettungsfahrt der „Cap Anamur“ ins südchinesische Meer.
Rupert Neudeck als „illegaler Schleuser“?
Von den meisten Bürgerinnen und Bürgern begeistert verfolgt und unterstützt, erntete Neudeck aus den Reihen der Politik schärfste Kritik für seine Aktion. Die Aufnahme der vietnamesischen Geflüchteten war von Anfang an ohne Absprache mit dem Auswärtigen Amt erfolgt. Auch verbreitete sich das Argument, die Rettungsaktion würde Menschen überhaupt erst zu der waghalsigen Flucht „verlocken“. Der involvierte Schriftsteller Heinrich Böll hielt diesem Vorwurf entgegen: In Südvietnam sei ihre Rettungsaktion kaum bekannt. Die Fluchtursache läge außerdem im kriegerischen Konflikt vor Ort und nicht in den Hilfsangeboten von außen. Letzten Endes setzte die Cap Anamur mit den Nachfolgeschiffen Cap Anamur II und III ihre Fahrten ins südchinesische Meer bis 1986 fort. Ab 1982 änderte das Hilfskomitee seinen Namen in Cap Anamur/ Deutsche Not-Ärzte e.V. Der Verein ist mit zahlreichen humanitären Hilfsaktionen, vor allem in Afrika, bis heute aktiv. Bis 2002 blieb Neudeck der Leiter der unabhängigen Hilfsorganisation.
Einmal damit angefangen, weiteten Rupert und Christel Neudeck ihr humanitäres Engagement sogar noch weiter aus. 2003 gründete Rupert Neudeck eine zweite NGO, den Friedenskorps Grünhelme e.V. Der Verein zeichnet sich durch die Zusammenarbeit von muslimischen und christlichen Ehrenamtlichen aus. Aber auch andere Konfessionen sind willkommen. Gemeinsam bauen sie Häuser und helfen die Infrastruktur in Krisen- und Kriegsgebieten neu aufzubauen. Den Anlass zur Vereinsgründung sah Neudeck in einer wachsenden Islamfeindlichkeit in Deutschland nach den islamistischen Terroranschlägen am 11. September 2001. Christ:innen, Jüd:innen und Muslime glauben doch an einen Gott – warum halten sie nicht eher zusammen?
Umstrittene Meinungen, umstrittenes Talent
Neben seinen unermüdlichen Hilfseinsätzen verbreitete Neudeck seine radikalen Ansichten in mehreren publizistischen Schriften und Interviews. Besonders umstritten sind darin unter anderem seine Äußerungen zum israelisch-palästinensischen Konflikt. In seinem Buch „Ich will nicht mehr schweigen“ prangerte er die israelische Siedlungspolitik und ihren Umgang mit der palästinensischen Bevölkerung an.
Kritik erntete Neudeck nicht zuletzt für die Art und Weise wie er seine Arbeit ausführte. Seine Tätigkeiten beim Deutschlandfunk erledigte er scheinbar oft zwischen Tür und Angel. Aber vor allem als Leiter der Hilfsorganisationen wurde er mehrmals kritisch umschrieben: Unprofessionell, chaotisch, dickköpfig, vielleicht auch ein bisschen verrückt…
Rupert Neudeck war ein Idealist und verlangte nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Mithelfer:innen viel ab. Ohne bürokratischen Aufwand, dafür mit viel Improvisation und einigen Pannen setzte er seine Vorhaben in die Tat um. Diese Fehler und Schwächen stritt Neudeck keineswegs ab. Dennoch hielt er an seinem schnellen und radikalen Vorgehen fest: „Man kann dem Elend nur konkret begegnen.“
Dieser Beitrag ist Teil unserer neuen Reihe „Migration in der Demokratiegeschichte“ ein. Darin thematisieren wir, wie Migration Demokratie geprägt hat:
Welche Menschen und Ideen haben im Laufe der Zeit ihren Weg in die (deutsche) Demokratie gefunden – oder diese (wieder) verlassen? Wie setzten sie sich für eine Gleichbehandlung aller Bürger:innen ein? Unter dem Titel der Reihe findet ihr diese Geschichten in den Schlagwörtern.
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