Ehe eine Person zum Role Model wird, muss ihre Handlung erst einmal einen gewissen Bekanntheitsgrad erfahren. Mit der Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland „dankt der Staat für herausragende persönliche Leistungen für das Gemeinwohl“, heißt es in den Informationen des Bundespräsidenten dazu.
Für die Jahre von 2010 bis 2019 liegt eine Statistik vor. Demnach wurde diese „höchste Anerkennung, welche die Bundesrepublik Deutschland für das Gemeinwohl ausspricht“, 19.298 Frauen und Männern zuteil. Mit der Ordensverleihung soll eine „selbständige, auszeichnungswürdige Leistung“ gewürdigt werden: „Die Auszeichnungswürdigkeit einer Leistung bestimmt sich nach dem ihr zugrundeliegenden Maß an Gemeinsinn, Sachkenntnis und Tatkraft sowie nach ihrer Tragweite für das allgemeine Wohl.“ Wenn auch etwas formal, so wird im Statut des Verdienstordens doch deutlich dargelegt, dass eine „Leistung“, eine besondere Handlung, das entscheidende Kriterium für die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes ist.
Unrealistische Ansprüche an Vorbilder
Beim Blick auf Vorbilder gibt es einen Zwiespalt, der wohl nie vollständig aufgelöst werden kann. Als Vorbilder werden oft nur Menschen angesehen, die in ihrem gesamten Lebensweg Vorbildhaftes im Sinne einer Lebensleistung erbringen und über alle moralischen Zweifel erhaben sind.
Menschen zu finden, die in ihrem Leben ausschließlich Gutes vollbracht haben, ist schwierig – ein Anspruch, dem wohl kein Mensch gerecht werden kann. Und ebenso problematisch ist es, Menschen ausschließlich über ihre positive Eigenschaften zu definieren. Hier besteht die Gefahr, sie als Heilige auf einen Denkmalsockel zu setzen. Denn das Leben ist vielfältiger, wie auch das Beispiel Nelson Mandela zeigt. So schreibt dessen Biograf Stephan Bierling:
Mandela hat viele Gesichter: stolzer Häuptlingssohn, eifriger Missionsschüler, feuriger schwarzer Nationalist, schwieriger Ehemann, prinzipienfester Anwalt, opportunistischer Marxist, gewaltbereiter Widerstandskämpfer, disziplinierter Häftling, Menschenfischer, geschickter Verhandler, loyaler Parteipolitiker, Versöhner der Nation, gefeierter Weltstaatsmann, Freund von Präsidenten, Diktatoren, Superreichen und Showstars, rastloser Ruheständler, verehrter Elder Statesman, distanzierter Vater, missbrauchte Symbolfigur.
Stephan Bierling: Nelson Mandela. Rebell, Häftling, Präsident. München 2018, S. 14.
Diese Beschreibung zeigt verschiedene – teilweise wenig vorbildhafte – Facetten Mandelas, der 1993 den Friedensnobelpreis erhielt. Zur Heiligenverehrung taugt er nicht, wohl aber dazu, sich mit besonderen Verhaltensweisen und Leistungen auseinanderzusetzen: „Trotz großem Leid behielt er die Fähigkeit zu Versöhnung und Vergebung und wusste sie politisch für sein Land umzusetzen. Das ist die Lebensleistung, die über seinen Tod hinaus in Erinnerung bleiben wird“, schrieb die taz in einem Nachruf auf Mandela. „Er holte das Beste aus den Menschen raus, auch aus seinen Gegnern […]. Mandelas Weitblick überzeugte und ebnete den Weg zur Demokratie. Nicht Rache brachte Mandela ans Ziel, sondern kluge Dialogführung und scharfsinnige Diplomatie. Er folgte nicht einer feststehenden Strategie, aber er blieb sich grundsätzlich treu. Seine Stärken: auf Menschen zugehen, Vertrauen aufbauen, Kluften überwinden.“
Konkrete Handlungen und Einstellungen
Wir machen es uns einfacher, wenn wir den kaum einzulösenden Anspruch „Vorbilder müssen makellose Persönlichkeiten sein“ aufgeben. Uns ganz freimachen von der Vorstellung einer in allen Lebensfacetten moralisch einwandfreien Persönlichkeit werden wir aber wohl nie können. Auch beim Bundesverdienstkreuz gibt es Ausschlusskriterien, etwa die Verurteilung wegen eines Verbrechens, und auch Regularien, wie die Auszeichnung im Nachhinein aberkannt werden kann.
Zielführender – wenn auch etwas umständlicher – wäre es, wenn wir statt von Vorbildern viel stärker von vorbildhaften Eigenschaften und Handlungen sprechen würden oder sogar von solchen, die uns beeindrucken und Orientierung geben können. Zumindest sollte Letzteres vor Augen sein, wenn der Begriff des Vorbilds verwendet wird. Denn damit wird der Blick weg von der Gesamtbetrachtung mehr hin zu konkretem Verhalten in jeweiligen Situationen gelenkt.
Die richtige Tat im entscheidenden Moment
Der Religionspädagoge Hans Mendl untermauert diese These mit der provokanten Aussage: „Es interessiert nicht das Lebensganze einer Person.“ Für eine anregende pädagogische Auseinandersetzung mit Vorbildern hält er es für wichtig, auf „dilemmataugliche“ Entscheidungssituationen im Leben der zu behandelnden Biografie zu blicken:
Ein echtes Dilemma liegt dann vor, wenn bei der Wahl zwischen zwei oder mehreren Optionen je gleichgewichtige Gründe für die eine oder andere Lösung sprechen. Falsch wäre es, die Dilemmasituation so auszugestalten, dass sich von vornherein die vom Lehrer ethisch bevorzugte Position bzw. bei bekannten Helden die faktische Entscheidung aufdrängt. Im Gegenteil: Je plausibler und nachvollziehbarer die Alternativpositionen verstanden und in ihrem Eigenwert akzeptiert werden können, umso plastischer wird in einem weiteren Schritt des Vergleichs die Besonderheit der ethischen Entscheidung der zentralen Person.
Hans Mendl: Modelle, Vorbilder, Leitfiguren. Lernen an außergewöhnlichen Biografien. Stuttgart 2015, S. 30.
Eine solche Betrachtungsweise fokussiert sich auf Handlungsoptionen. Ausgangspunkt ist ein Fundus an Wissen, wie Menschen in bestimmten Situationen unterschiedlich agiert und reagiert haben. Manche dieser Handlungen bezeichnen wir mit heutigem Blick als besonders oder gar vorbildhaft. Dieses Repertoire an besonderen Handlungsoptionen im Hinterkopf zu haben, könnte auch im Vorfeld von heutigen Entscheidungen hilfreich sein. Dies kann freilich nicht in Form einer reinen Nachahmung geschehen. Die Beschäftigung mit besonderen Eigenschaften und Handlungen kann beim Abwägen und Bedenken unterstützen, ohne den Einzelnen die Bürde der Entscheidung abnehmen zu können. „Alternativlos“ sind Entscheidungen nie.
Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus der Publikation Vorbilder der Demokratiegeschichte. Handlungen und Einstellungen, die beeindrucken und Orientierung geben können. Diese und weitere Veröffentlichungen von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. können kostenfrei in der Geschäftsstelle bestellt werden und stehen hier zum Download zur Verfügung.
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