Ende November 2018 hatten wir bereits einen Artikel zum Thema Kompromiss auf dieser Seite. Ausgerechnet ein Kompromiss, über den heute das Bundeskabinett berät, stößt mir ziemlich sauer auf. Denn er stellt mich vor 2 Fragen: Wer ist an der Kompromissfindung beteiligt? Und wie viel Kompromiss kann ich (als Demokratin) aushalten?
Es geht um die Erweiterung des § 219a, der „Werbung für den Abbruch von Schwangerschaft“ verbietet. Bekannt – bzw. wieder entdeckt – wurde er, als 2017 ein Gießener Gericht die Ärztin Kristina Hänel wegen Verstoßes gegen diesen Paragraphen verurteilte. Statt das Urteil einfach hinzunehmen, ging sie in Berufung und startete eine Petition zur Abschaffung von § 219a.
§ 219a und die Frauenbewegung
Zu erklären, was genau die Änderung von § 219a für Ärzt*innen und schwangere Frauen bedeuten, ginge hier zu weit. Zahlreiche Artikel sind in den letzten Wochen erschienen, die das Für und Wider diskutieren (einfach § 219a bei Google eingeben). Immer wieder finden Demonstrationen statt, Talkshows beschäftigen sich mit dem Thema: Schnell ist klar, dass es in der Debatte um mehr geht als eine simple Gesetzesänderung.
Unter anderem geht es um Frauenrechte und darum, wer über den weiblichen Körper bestimmen darf. Dieses Thema ist keinesfalls neu – hier ein kurzer historischer Überblick:
„Wir haben abgetrieben!“ Das war vor 48 Jahren der Titel einer Stern-Ausgabe, in dem sich 374 prominente und nicht prominente Frauen dazu bekannten, abgetrieben zu haben. Sie schlossen damit an eine ähnliche Aktion des französischen Journals Nouvel Observateur an. 1971 waren Schwangerschaftsabbrüche in beiden Ländern noch strafbar. Zwar wurde das Gesetz relativ selten angewandt – 1969: 276-mal – aber immerhin drohte Gesetzesbrecherinnen 5 Jahre Haft .
Die Aktion war Protest gegen § 218, der Schwangerschaftsabbrüche verbot und löste eine Diskussion über dessen Reform aus. Auch damals ging es nicht „nur“ um das Thema Abtreibung. Unmittelbar damit verknüpft waren Themen wie weibliche Sexualität und (sexuelle) Selbstbestimmtheit. Nach einer langen Zeit des Schweigens über diese Tabu-Themen wurden die Frauen laut und begannen, mehr Rechte einzufordern.
Dies war der Anfang der Frauenbewegung, aus der im Laufe der letzten Jahrzehnte einige Reformen hervorgingen. Einige setzten sich in konkreten Gesetzesänderungen durch, darunter allein in den 1970er Jahren Regelungen zu Namens-, Ehe- und Scheidungsrechten. Andere Gesetze, wie etwa zur gleichen Entlohnung oder zur Strafbarkeit von sexueller Belästigung, ließen mal mehr, mal weniger lange auf sich warten. Dass diese Themen und Gesetze erst so spät eingebracht wurden, ist eigentlich nicht verwunderlich. Bis 1987 lag der Anteil von Frauen im Bundestag stets unter 10% – es wurde viel über, aber wenig mit Frauen diskutiert.
Und heute?
Auch wenn manche das Gegenteil behaupten, Frauen müssen nach wie vor um ihre Rechte kämpfen. § 219a ist nur ein Beispiel unter vielen, aber vielleicht ein besonders ärgerliches, da hier eine Stigmatisierung von Seiten des Staates stattfindet. Durch den Paragraphen wird die Gewinnung bzw. Verbreitung von Informationen unnötig erschwert.
Außerdem geht es bei Frauenrechten nicht nur um Gesetze. Dass Rechte auf dem Papier und Rechte im realen Leben ohnehin nicht gleichzusetzen sind, sollte der Mehrheit einleuchten. Es geht um ein Miteinander und darum, wie wir dieses aushandeln.
#metoo, Gendersternchen, Paygap, mansplaining und Co. In diesen Diskussionen können und werden sich nicht alle Menschen wiederfinden.
Und das ist völlig in Ordnung. Schließlich sind wir auch nicht mit allen Entscheidungen einverstanden, die getroffen werden. So wie ich mit dem Kompromiss zu § 219a. Eine Frage, die dennoch bleibt: Bin ich in der Lage, einen Kompromiss zu akzeptieren, auch wenn ich das Gefühl habe, dass er über die Köpfe der Betroffenen hinweg getroffen wird?
Politische Kompromisse stellen einen Mittelweg dar, der für die Mehrheit tragbar sein soll. Die Mehrheit ist aber nicht gleichzusetzen mit der Gruppe, die von der Entscheidung betroffen ist. Und sollten Entscheidungen nicht Menschen treffen, die betroffen sind? Im Fall von § 219a also von/mit Ärzt*innen und schwangeren Frauen. Und nicht nur von 490 Männern und 290 Frauen, die gerade im Bundestag sitzen.
Mehrheitsprinzip vs. Minderheiteninteresse/Minderheitenschutz – schwieriges Thema. Und ein Konflikt, der zeigt, dass Kompromisse auszuhalten kein Allheilmittel ist, um Demokrat*innen glücklich zu machen.
0 Kommentare