Demokratiegeschichten

Angela Merkel wird 70

Heute feiert Angela Merkel ihren 70. Geburtstag. Fast die Hälfte ihres Lebens, etwas mehr als 30 Jahre, war sie in der Politik. Davon 16 Jahre als Bundeskanzlerin.

Vor gerade einmal zweieinhalb Jahren beendete Merkel ihre Karriere. Doch schon heute stellt sich die Frage, was das Erbe ihrer Kanzlerschaft ist. Lässt sich darauf eine Antwort finden?

Mit Geduld…

Vielleicht komme ich der Antwort durch eine persönliche Erinnerung näher: Herbst 2005, Politikunterricht.

Am Tag zuvor fanden die Wahlen zum Bundestag statt. Mit gerade einmal einem Prozent Vorsprung gewannen CDU/CSU vor der SPD. Gerhard Schröder, SPD-Bundeskanzler seit 1998, hatte einen spektakulären Wahlkampf mit dramatischer Aufholjagd geführt. Abends fanden sich die Parteiführungen in einer Runde zusammen, um im Fernsehen die Wahlergebnisse zu diskutieren.

Doch nicht die inhaltlichen Debatten – wenn sich davon sprechen ließe – sondern das Verhalten der Gesprächsteilnehmenden war unser Gesprächsthema. Denn obwohl seine Partei in der Wahl unterlegen war, konnte sich Schröder eine Große Koalition nur mit sich selbst an der Spitze vorstellen.

Glauben Sie im Ernst, dass meine Partei auf ein Gesprächsangebot von Frau Merkel bei dieser Sachlage einginge, in dem sie sagt, sie möchte Bundeskanzlerin werden? Ich meine, wir müssen die Kirche doch auch mal im Dorf lassen.

Gerhard Schröder in der Elefantenrunde 2005, ab Video 1:28.

Dabei war Angela Merkels CDU die Wahlsiegerin und sie selbst Kanzlerkandidatin.

Angela Merkel aber scheint in diesem Gespräch – zumindest in den Videoausschnitten, die ich gefunden habe – nicht zu reagieren. Ruhig, (vielleicht am Anfang überfordert?), sitzt sie auf ihrem Platz und schaut zu, zwischendurch mit einem Lächeln, wie Gerhard Schröder sich selbst zerlegt.

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Angela Merkel im Jahr 2005; Foto: Antje Wildgrube; CC BY 3.0 DE.

Was mich und meine Klassenkamerad:innen beeindruckte, war negativ die Arroganz, mit der Schröder redete. Und positiv, wie gelassen Merkel blieb. Kalkuliert. Von da an hatte sie bei uns, zumindest für eine Weile, einen Sympathiebonus.

Dinge aussitzen, im Positiven wie im Negativen, das konnte sie.

…und einem guten Zeitgefühl…

Als Angela Merkel ihre Kanzlerschaft antrat, war sie gerade einmal 15 Jahre in der Politik aktiv. Im Vergleich zu vielen Spitzenpolitiker:innen ist das auch heute noch eine kurze Zeit.

Ihre politische Karriere begann 1989 in Berlin. In Ost-Berlin. Denn Angela Merkel wurde zwar 1954 in Hamburg geboren. Doch ihre Familie siedelte noch im selben Jahr nach Brandenburg über, wo ihr Vater eine Stelle als Pfarrer in Quitzow annahm. Dementsprechend wurde sie in der DDR sozialisiert, wurde konfirmiert, trat der FDJ bei, studierte und promovierte in Physik in Ost-Berlin.

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Merkel mit dem letzten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière auf einer Pressekonferenz 1990; Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0803-017 / Settnik, Bernd / CC-BY-SA 3.0.

Bis zum Mauerfall blieb sie unpolitisch, an der Friedlichen Revolution war sie nicht beteiligt. Dann aber entdeckte sie neue Möglichkeiten für sich und schloss sich der neu gegründeten Partei „Demokratischer Aufbruch“ an. Sie wurde deren Pressesprecherin, kurze Zeit später Regierungssprecherin der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maizière.

Nachdem der Demokratische Aufbruch in der CDU aufging, schloss auch Merkel sich den Christdemokraten an. Auch wenn sie selbst diese Eigenschaften nie betonte, sondern im Gegenteil eher versuchte, von diesen abzulenken, kommen ihr ihr Frau-Sein und ihre ostdeutsche Identität nun zu Gute. Denn damit wurde sie in Helmut Kohls neuem Kabinett nicht nur zur Quoten-Frau, sondern auch zur Quoten-Ostdeutschen. 1991, ein Jahr nach ihrem Eintritt in die Politik, wurde Merkel Bundesministerin für Frauen und Jugend. 1994 dann Bundesumweltministerin, 1998 Generalsekräterin der CDU und zwei Jahre später Vorsitzende der CDU.

Ganz außer Zweifel steht jedoch, dass Merkel ihre Arbeit äußerst effizient erledigte. In kürzester Zeit arbeitete sie sich in ein Politiksystem ein, dass ihr vollkommen neu war, eignete sich zahlreiche Kompetenzen an und fiel durch ihre präzise und pragmatische Art auf.

Eine Frau der schönen Worte war sie jedoch von Anfang an nicht. Ebenso wenig strahlte sie Charisma aus, das Hörsäle gefüllt hätte.

…lange unterschätzt…

Auch ihre unscheinbare Art war es, die viele ihrer Parteikolleg:innen -und konkurrent:innen Angela Merkel unterschätzen ließen. Als „Kohls Mädchen“ machte sie Karriere und stieg immer weiter in der Partei auf.

Doch 1999 spaltete die CDU-Spendenaffäre die Partei und ihren damaligen Vorsitzenden. Helmut Kohl hatte über Jahre illegale, nicht versteuerte Spendengelder, angenommen. Zwar wohl nicht zu Privatzwecken, aber um sich und seiner Partei politische Vorteile zu verschaffen. Zunächst stritt Kohl die Existenz der Schweizer Konten ab. Dann räumte er sie doch ein – weigerte sich aber, die Namen der Geldgebenden zu nennen.

Das Verhalten ihres Ehrenvorsitzenden brachte die CDU in eine schwere Lage. Einerseits war Kohl nach wie vor ein Zugpferd, eine lebende Ikone. Andererseits erweckte seine mangelnde Kooperation bei den Ermittlungen zunehmend Unverständnis, sowohl in der Partei als auch in der Wählerschaft. Zudem weitete sich die Affäre aus, die Involvierung von immer mehr Politiker:innen – beispielsweise dem Parteivorsitzenden Wolfgang Schäuble – kam heraus.

Schließlich war es Merkel, die sich öffentlich von Kohl distanzierte. Und auch ihre Partei dazu aufforderte. In einem Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) schrieb sie:

Die Partei muss also laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtross, wie Helmut Kohl sich oft selbst gerne genannt hat, den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen.
Sie muss sich wie jemand in der Pubertät von Zuhause lösen, eigene Wege gehen.

FAZ-Ausgabe vom 22.12.1999.

Helmut Kohls aktive Zeit in der CDU war vorbei. Angela Merkel stellte mit ihrem Beitrag sicher, dass seine Karriere tatsächlich endete. Als „Königsmörderin“ wurde sie im Nachhinein von manchen dafür bezeichnet.

… pragmatisch…

Sie wolle Deutschland dienen, das erklärte Merkel im Mai 2005, als sie ihre Kanzlerkandidatur bekannt gibt. Einfache Zeiten hat sie sich dafür nicht ausgesucht: 2008 begann mit der Insolvenz von Lehman Brothers eine globale Finanzkrise. In dieser wurde Merkel zur europäischen Zentralfigur, versuchte, einen gemeinsamen Kurs zu finden.

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Merkel und weitere Regierungschefs auf dem G8-Gipfel 2007 im mecklenburgischen Seebad Heiligendamm; Foto: gemeinfrei.

März 2011: In Fukushima trifft ein Tsunami den Atomkomplex und löst einen Super-GAU aus. Innerhalb weniger Tage entschied sich Merkel, aus der Kernenergie auszusteigen. Obwohl sie diese über Jahrzehnte gefördert hatte.

Dann 2014 die Annexion der Krim durch Russland, das Verhältnis zu Wladimir Putin kühlte immer weiter ab.

Und schließlich 2015, als Tausende von Menschen, schließlich über eine Millionen, nach Deutschland und Europa fliehen.

Durch all diese und weitere Krisen steuert Merkel mit einem schier unfassbaren Pragmatismus. Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger Schröder und anderen politischen Führern der Zeit – darunter auch Donald Trump – polarisierte Merkel nicht. Sie versuchte stets, die Mitte zu finden, Kompromisse zu schließen, nicht zu sehr anzuecken. Merkel war so unaufgeregt, ja fast schon langweilig, dass sie zu einem Ruhepol wird. Im positiven wie im Negativen: Es fiel und fällt schwer, sich an Merkel aufzureiben. Ihr Markenzeichen, die „Merkel-Raute“ spiegelt ihren Stil auch symbolisch nach außen.

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Offizielles Kanzlerportrait 2010; Foto: Armin Linnartz/CC BY-SA 3.0 DE.

… durch die Krise?

Eine Kehrseite der Ruhe, für die Merkel so bekannt war, wird nach ihre benannt. Das „Merkeln“ (Jugendwort 2015) bezeichnet „nichts tun, keine Entscheidung treffen, keine Äußerung von sich geben“.

Interessant, dass im selben Jahr ein anderer Satz Merkels so viel Aufmerksamkeit erhielt. Mit „Wir schaffen das“ öffnete sie den Weg für über eine Million Geflüchtete Menschen nach Deutschland. Es war eine kurz entschlossene und menschliche Handlung, für die Merkel aus dem Ausland viel Anerkennung erhielt. Aber in Deutschland auch viel Kritik, sowohl von Parteigenoss:innen als Gegner:innen.

„Wir schaffen das“, „Sie kennen mich“ und andere ähnliche Sätze Merkels haben uns durch ihre Kanzlerschaft begleitet. Sie sollten Stärke, Optimismus, Verlässlichkeit und Beständigkeit zeigen. Und das taten sie auch, „Mutti“ Merkel verkörperte sie alle. Wie viele andere Dinge haben sie auch aber eine Kehrseite.

Und so lässt sich Merkels Kanzlerschaft – zumindest heute – nicht eindeutig bewerten. Ohne Zweifel erlebte Deutschland gerade in den ersten Jahren ihrer Kanzlerschaft – trotz Finanzkrise – einen Aufschwung und eine Stabilisierung. Egal ob sie selbst sich als Feministin bezeichnete oder nicht – sie prägte eine Generation, die sah, dass Frauen tatsächlich in jedes Amt gelangen könnten.

Trotzdem bemängeln manche, Merkel habe in ihrer Zeit als Kanzlerin zu wenig bewegt. Zu wenig modernisiert, zu wenig oder zu langsam Entscheidungen getroffen. Manche längst notwendigen Reformen verschleppt, Krisen unnötig verlängert.

Wäre die Bundesrepublik ohne Angela Merkel besser oder schlechter durch die zahlreichen Krisen gekommen, die ihre Kanzlerschaft prägten? Ich muss gestehen, ich bin unsicher, ob sich diese Frage überhaupt beantworten lässt. Denn bei vielem, was an Merkel – auch in diesem Beitrag – kritisiert wurde, muss ich doch sagen, dass ich sie meistens als wahrhaftig wahrgenommen habe. Also als jemanden, die Entscheidungen bewusst trifft und zwar die, die sie für die richtige hält.

Was bleibt?

Ohne Zweifel steht auch, dass Angela Merkel politisch viel erreicht hat. Und nicht trotz, sondern mit ihrer DDR-Vergangenheit. Selten hat sie sich zu dieser geäußert, doch zum Ende ihrer Kanzlerschaft fand sie noch einmal deutliche Worte. Und mit diesen lässt sich dieser Artikel über sie gut beenden. Ich könnte mir vorstellen, einige hätten sie gerne früher von ihr gehört:

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Angela Merkel 2021; Foto: European’s People Party, CC BY 2.0.

In einem Ende letzten Jahres von der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegeben Buch mit vielen Beiträgen und Positionen zur Geschichte der CDU heißt es in einem der dort veröffentlichten Aufsätze über mich: „Sie, die als Fünfunddreißigjährige mit dem Ballast ihrer DDR-Biographie in den Wendetagen zur CDU kam, konnte natürlich kein ‚von der Pike auf’ sozialisiertes CDU-Gewächs altbundesrepublikanischer Prägung sein.“

Die DDR-Biografie, also eine persönliche Lebensgeschichte von in meinem Fall 35 Jahren in einem Staat der Diktatur und Repression – „Ballast“? Dem Duden nach also eine „schwere Last, die“ – in der Regel – „als Fracht von geringem Wert zum Gewichtsausgleich mitgeführt wird“ oder als „unnütze Last, überflüssige Bürde“ abgeworfen werden kann? – (…)

Ich erzähle das hier nicht, um mich zu beklagen. Denn ich bin nun wirklich die Letzte, die Grund hätte, sich zu beklagen – so viel Glück, wie mir persönlich in meinem Leben beschieden ist. Ich erzähle es auch nicht als Bundeskanzlerin. Ich möchte es vielmehr als Bürgerin aus dem Osten erzählen, als eine von gut 16 Millionen Menschen, die in der DDR ein Leben gelebt haben, die mit dieser Lebensgeschichte in die Deutsche Einheit gegangen waren und solche Bewertungen immer wieder erleben – und zwar als zähle dieses Leben vor der Deutschen Einheit nicht wirklich.


Rede von Bundeskanzlerin a.D. Dr. Angela Merkel beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit 2021 am 3. Oktober 2021 in Halle/Saale: Bulletin 124-1, 3. Oktober 2021

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Über uns 
Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

1 Kommentar

  1. Hans-Christoph Stahlberg

    23. Juli 2024 - 20:45
    Antworten

    Dinge aussitzen, im Positiven wie im Negativen, das konnte sie.
    auf den Punkt gebracht- das Politik „Verfahren“ ohne -Visionen, ohne Perspektive · ohne Zukunft
    rein pragmatisch, wie es Scholz weiterführt:
    – liebe Annalena

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