Demokratiegeschichten

Müllverbrennung in Lüdinghausen-Tetekum? – NEIN! (II)

Teil I findet ihr hier.

Durch die direkte Betroffenheit konnte in den folgenden Tagen eine bemerkenswerte Mobilisierung der Bevölkerung von Lüdinghausen und Umgebung stattfinden. Mit organisatorischer Unterstützung der lokalen Parteien, der Grünen und vor allem der SPD, engagierte sich ein erheblicher Teil der Einwohnerschaft in der Bürgerinitiative LUVT (Lüdinghauser Umweltinitiative gegen eine Verbrennungsanlage in Tetekum). Diese initiierte sich auf einer Informationsveranstaltung mit einigen Hundert Teilnehmern und erhielt einige Wochen später durch Eintragung ins Vereinsregister einen gesicherten formalen Rahmen. Nur wenige Tage nach Bekanntmachung des Standortvorschlags hatte diese Initiative schon genügend Geld gesammelt, um damit Informationsmaterial für Infostände und öffentliche Veranstaltungen zu erstellen und zu organisieren.

Gründungsversammlung der Bürgerinitiative LUVT (Lüdinghauser Umweltinitiative gegen eine Verbrennungsanlage in Tetekum) am 10.11.1993

Gleichzeitig entstand in der Lüdinghauser Zeitung (LZ), dem Lokalteil der Westfälischen Nachrichten (WN), durch eine Vielzahl von Leserbriefen eine engagierter Diskussion. Hier kamen vorwiegend Stimmen gegen die Ansiedlung einer Müllverbrennungsanlage (MVA) in Lüdinghausen zu Wort kamen, aber durchaus auch Befürworter derselben. Der in den Leserbriefen erkennbare Sachverstand wurde schließlich in Arbeitsgruppen der Bürgerinitiative LUVT zusammengeführt. Diese setzten sich mit den einzelnen Kriterien der Standortsuche auseinander, um so die Eignung Lüdinghausens als Standort fundiert und kritisch zu hinterfragen.

Engagement in der Bürgerschaft

Parallel dazu beförderten weitere engagierte Bürgerinnen und Bürger eine Unterschriftenaktion. Bei dieser sprachen sich mehr als 8.000 Einwohner der Stadt und des Umlands gegen die MVA im Ortsteil Tetekum aus. Durch die Unterschriftenaktion wurde die Thematik auf die Straßen, aber auch in Vereine und Verbände der Stadt getragen und dort lebhaft diskutiert. Mittels Plakaten an belebten Straßen und Plätzen hielt man das Thema über Monate im Bewusstsein der Bevölkerung präsent. Man konnte mithin von einer sehr engagierten Bürgerschaft sprechen, die große Teile der Stadtgesellschaft umfasste.

Auswahl von Leserbriefen aus den Westfälischen Nachrichten von November und Dezember 1993.
Plakatierunng durch den LUVT, WN-Bericht vom 6.12.1993.

Überhaupt war der Lokalteil der Westfälischen Nachrichten eine wichtige Plattform. Einerseits für die Darstellung der Abfolge von Ereignissen und politischen Positionen andererseits aber auch für den öffentlichen Diskurs. Presseberichte und Leserbriefe hatten einen großen Anteil daran, dass über mehrere Monate die Diskussion in der Bevölkerung wach gehalten und ein öffentlicher Druck erzeugt wurde.

Weitere Mobilisierung

Die Mobilisierung der Bevölkerung wurde durch eine Reihe besucherstarker Veranstaltungen unterstützt. Außerdem hatten sich Arbeitsgruppen zu verschiedenen Problemfeldern der Müllverbrennung speziell für den Standort Lüdinghausen gebildet. Sie nahmen sowohl die Kriterien des DPU-Gutachtens zu Lüdinghausen unter die Lupe, als auch weitere Faktoren, die gegen den Standort sprachen. Zu allen Kriterien wie Abstand zur Wohnbebauung, natürliche und technische Hindernisse, Zentralität, sensible Nutzungen und Verkehrsanbindung wurden stichhaltige Gegenargumente zu den Ausführungen des Gutachtens entwickelt. Außerdem wurden die im Gutachten angewandten Methoden und prognostizierten Müllmengen und damit das ganze Gutachten der DPU in Zweifel gezogen.

Die Verwaltung und politische Führung der Stadt blieb in diesen Wochen und Monaten des Protests nicht untätig. Kurz bevor die VEW als großer Entsorgungsriese zuschlagen konnte, erwarb die Stadt Lüdinghausen das 88.000 qm große Gelände für den geplanten MVA-Standort für 2,4 Millionen DM von dem Eigentümer, einem Lüdinghauser Landwirt. Für eine Realisierung des MVA-Projekts wurde die Stadt jetzt auf jeden Fall gebraucht, was ihre Position sicherlich verbesserte. Gegen ihren Willen auf dieses Grundstück zuzugreifen war jetzt nur mit einem möglicherweise sehr langwierigen Enteignungsverfahren möglich.

Als dann noch zu Beginn des Jahres 1994 von der DPU mit Legden und Dülmen zwei weitere mögliche Standorte präsentiert wurden, war zwar in Lüdinghausen eine gewisse Erleichterung zu verspüren. Dennoch führte man die Aktionen mit großer Ernsthaftigkeit fort. Im Februar übergab man dann das fertige Gegengutachten dem Kreis Coesfeld und der Stadt Lüdinghausen. Außerdem übergab man dem Oberkreisdirektor Pixa die gegen den MVA-Vorschlag Lüdinghausen gerichteten Unterschriften, insgesamt 8766 auf 4,5 Kilogramm Papier (LZ vom 23.2.1994).

Standortentscheidung für Legden

Wegen der Vorabinformation der Politik in Lüdinghausen und dem Kreis konnte die LZ schon am 3. März verkünden, dass die MVA in Legden errichtet werden solle und der „Kelch … an Lüdinghausen vorbei [ging] – aber nur knapp.“, wie der WN-Redakteur Werner Storksberger betonte. Von den fünf näher untersuchten Standorten erzielte Legden die wenigsten Punkte für Ungunstfaktoren, nämlich 31. Lüdinghausen und Bocholt erhielten 33, Borken 34 und Dülmen 42.

Die Reaktionen bei den Politikern in der Stadt waren entsprechend positiv. Bürgermeister Josef Holtermann zeigte sich erleichtert und dankte der Bürgerinitiative LUVT für ihre engagierte Arbeit. Dr. Wolfgang Graute, Sprecher von LUVT, zeigte Mitgefühl für die Situation in Legden und versprach, dass man sich weiter dafür einsetzen wolle, Müllverbrennungsanlagen im Münsterland komplett zu verhindern.

Damit waren Wochen des Für und Wider und des Kampfes der Bürgerinitiative gegen den Standort Tetekum zu einem Ende gekommen. Die Entscheidung, so knapp sie auch ausgefallen war, entsprach dem Ansinnen der meisten Bürgerinnen und Bürger in Lüdinghausen und deren Sprachrohr LUVT. Die Berichterstattung zum Thema wurde nun zusehends spärlicher.

Fazit

Sicherlich hatte der Erfolg der Proteste viele Mütter und Väter in einer Stadt, in der sich eine breite Beteiligung an dem Projekt „Verhinderung einer Müllverbrennungsanlage in Lüdinghausen“ herausbildete.

Entscheidend aber dürfte die besondere Konstellation in Lüdinghausen gewesen sein: Eine engagierte Bürgerschaft bündelte ihre Energie und Kompetenz in einer Bürgerinitiative, deren ideenreiche Arbeit von der überwiegenden Mehrheit der politischen Kräfte in der Stadt und einer findigen Verwaltungsspitze unterstützt wurde. Eine wohlwollende Presseberichterstattung hielt die Flamme des Protests hoch, bis es zu einer günstigen Entscheidung kam. Das Protestgeschehen war vielfältig und sachlich fundiert, es lief nicht ausschließlich der Entwicklung hinterher. Stattdessen konnte es selbst Impulse setzen, auf die die Gegenseite reagieren musste.

Eine Entscheidung für eine MVA wäre wahrscheinlich nirgends ohne Friktionen möglich gewesen. Man kann jedoch bei Betrachtung des Gesamtablaufs des Geschehens in Lüdinghausen zu der Einschätzung kommen, dass der Widerstand in Lüdinghausen derart leidenschaftlich und fundiert war, dass sowohl die Gutachter von der DPU als auch die Entscheidungsträger im Kreis Coesfeld sich damit lieber nicht anlegen mochten. 

Dieser Blogbeitrag basiert auf einer Arbeit, die unter dem Titel Müllverbrennungsanlage in Lüdinghausen-Tetekum? NEIN! verfasst wurde. Sie entstand im Seminar Forschendes Lernen zum Thema „Protestgeschichte(n) in Westfalen im 20. Jahrhundert“ im Rahmen des Studiums im Alter an der Universität Münster. Sie wird voraussichtlich im Sommer 2024 auf dem Publikationsserver IAMI der ULB-Münster veröffentlicht und dann auch an dieser Stelle verlinkt.


Heribert Schwarzenberg (*1951) ist Teilnehmer des „Studium im Alter“ an der WWU Münster. Zuvor war er Lehrer für Mathematik, Wirtschaftswissenschaft, Geographie und Informatik am Kant Gymnasium Münster-Hiltrup.
Dieser Beitrag entstand im Seminar Forschendes Lernen zum Thema „Protestgeschichte(n) in Westfalen im 20. Jahrhundert“ an der Universität Münster. Eine Vollversion des Aufsatzes findet sich zudem hier auf dem Publikationsportal der Universität Münster.

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