Demokratiegeschichten

Michail Gorbatschow, ein Jahrhundertpolitiker

Dieser Artikel wurde ursprünglich am 2. März 2021, dem 90. Geburtstag Michail Gorbatschows veröffentlicht. Wir haben ihn aus Anlass seines Todes nochmal neu veröffentlicht:

Heute wird Michail Gorbatschow, der ehemalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, 90 Jahre alt. Ab Mitte der 1980er-Jahre wollte er mit Glasnost und Perestroika sein Land reformieren. Tatsächlich ermöglichte seine Politik das Ende des Kalten Krieges und die deutsche Wiedervereinigung. Heute wird Gorbatschow im Westen für seinen Mut verehrt. Im eigenen Land hingegen gilt er als „Totengräber der UdSSR“. Wie sah Gorbatschows Weg aus, vom stalinismusgeprägten Jugendlichen zum Reformer?

Kindheit

Geboren wird Michail Sergejewitsch 1931 in Stawropol als Bauernsohn. Auch er selbst arbeitet auf dem Feld und als Mähdreschertechniker. Gorbatschow erlebt die harten Hungerjahre unter Stalin auf dem Land und die Flucht der Erwachsenen in den Alkohol. Er wächst auf in einem Dorf ohne Strom, Radio oder Telefon. Gleichzeitig ist er ein typisches „Stalin Kind“ aus der Provinz, das durch die sowjetische Erziehung aus der sogenannten Unwissenheit erlöst wird (seine Mutter ist noch Analphabetin). Er wächst auf mit dem Glauben und der Treue zum „Aufbau des Sozialismus“, der ihm Karrierechancen eröffnet. Erst mit 14 Jahren kommt er in die Schule und engagiert sich in der Jugendorganisation der Partei. Schon fünf Jahre später ist er Kandidat der Kommunistischen Partei und wird zur Moskauer Universität zugelassen.

Studium und Beginn einer Parteikarriere

In Moskau studiert Michail Jura an der Lomonossow-Universität. Er sei „geistig unabhängig und selbstbewusst bis zur Arroganz“ gewesen, schreibt sein Biograf William Taubman. In Moskau lernt er die Soziologie-Studentin Raissa Titarenko kennen. Sie heiraten 1953 und ziehen vier Jahre später in Gorbatschows Heimatstadt, wo seine politische Karriere beginnt. Bis zu ihrem Tod 1999 ist Raissa seine wichtigste Stütze.

Zunächst arbeitet Gorbatschow als Abteilungsleiter des Gebietskomitees, ab 1968 dann als KP-Chef von Stawropol. Fast zwanzig Jahre lang ist er Zuschauer und Akteur des sowjetischen Provinzlebens. Er erlebt Korruption, Missgunst und Intrigen, das dörfliche Elend und die Festbankette mit Essen und Wodka, spendiert von den örtlichen Bossen. Als Chruschtschow 1956 mit der Entstalinisierung ernst macht, entwickelt Gorbatschow sich nach und nach zum Reformer. In dieser Zeit des politischen Tauwetters fordert er die Gründung unabhängiger Diskussionsrunden. Doch das endet zunächst mit der Absetzung Chruschtschows 1964 und dem Ende des Tauwetters.

Öffentlich auf Parteilinie, aber die Zweifel wachsen

Vor dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die ČSSR im August 1968 unterschreibt Gorbatschow noch einen Aufruf, in dem die Sowjetunion aufgefordert wird, „den Sozialismus in der Tschechoslowakei zu verteidigen“. Doch er fühlte sich dabei nicht wohl in seiner Haut. In den bleiernen Breschnew-Jahren wachsen seine Zweifel weiter. Bis dahin hat Gorbatschow das sowjetische Problem auf die Trägheit und Unfähigkeit der Funktionäre zurückgeführt. Jetzt beginnt er zu begreifen, dass die Wurzel des Übels in der bis ins kleinste Detail geregelten Zentralisierung aller Entscheidungen liegt. Gorbatschow glaubt weiter an den Kommunismus, aber er sieht auch Schwachpunkte.

Doch er behält seine Ansichten für sich und wird 1970 zum ersten Parteisekretär in Stawropol gewählt – und damit qua Amt zum Mitglied des ZK der KPdSU in Moskau. Voller Ehrgeiz und Energie meistert er ideologische Grabenkämpfe. Durch seine Reisen in den 1970er Jahren nach Westeuropa (Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien) und nach Kanada fallen ihm die Vorzüge westlicher Lebensweise und der höhere Lebensstandard auf. Zu Hause liest er Bücher von „marxistischen Ketzern“ wie Roger Garaudy und Antonio Gramsci, öffentlich verkündete er die Parteilinie. Aber hätte Gorbatschow damals rebelliert, hätte er sich später nicht mehr für Veränderungen und Reformen einsetzen können.

Die entscheidende Wende in Michail Gorbatschows Karriere

Die entscheidende Wende in seiner Karriere kommt Ende der 1970er Jahre. Gorbatschow wird zum Schützling von Juri Andropow, dem späteren Parteichef der SU. Andropow war langjähriger Chef des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Er weiß nur zu gut, dass das sowjetische System in einer Sackgasse steckt. Darin ist er sich mit Gorbatschow einig. Die Notwendigkeit zu politischen und vor allem wirtschaftlichen Reformen galt nach der Stagnation der Breschnew-Ära als unvermeidlich.

Andropow ist jedoch der Ansicht, in der Sowjetunion werde man Meinungs- und Informationsfreiheit im westlichen Sinne erst nach 15 oder 20 Jahren einführen können. Erst muss die Wirtschaft angekurbelt und der Lebensstandard der Bevölkerung verbessert werden.

Anfang der 1980er Jahre sterben in kurzer Folge drei Parteichef der SU. Als mögliche Nachfolger sind zwei Vertreter einer neuen Generation im Gespräch. Der „Hardliner“ Grigori Romanow aus Leningrad sowie der „Reformer“ Gorbatschow. Im März 1985 wird Michael Gorbatschow mit nur 54 Jahren zum neuen Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gewählt.

Die richtige Idee zum richtigen Zeitpunkt

Kaum im Amt übt Gorbatschow massive Kritik an den Zuständen der Innen- und Wirtschaftspolitik. Durch Aussortierungsaktionen in den Funktionärskadern versucht er seine Machtbasis zu verbreitern. Doch noch wichtiger sind für ihn freies, unzensiertes Diskutieren als Voraussetzung für die Überwindung des zähen Widerstands gegen jede Wirtschaftsreform. Bereits zu Beginn seiner Amtszeit startete er mit dem Vernichten von Weinstöcken und Obstbäumen die größte Anti-Alkohol-Kampagne, die es jemals in der UdSSR gab. (Dafür steckt er viel Kritik ein.) Außerdem führt er das „Neue Denken“, die Konzepte Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umstrukturierung) in die politische Arbeit ein.

Die Diskrepanz zwischen der Wertschätzung für seine Politik im (westlichen) Ausland als Hoffnungsträger und der unverhohlenen Kritik im eigenen Land nimmt während der Amtszeit Gorbatschows immer mehr zu. Den Hardlinern in der SU gehen die Schritte zu weit, den Reformern nicht weit genug. Zudem unterschätzt Gorbatschow die Nationalitätenkonflikte im eigenen Land und bekommt die ökonomischen Engpässe nicht in den Griff.

Abrüstung

Gorbatschow im Gespräch mit dem US-Präsidenten Ronald Reagan (1985). Foto: White House Photographic Collection, 1/20/1981 – 1/20/1989, Wikimedia gemeinfrei

Außenpolitisch setzt sich Gorbatschow für Abrüstung ein. Vor allem unternimmt er gegenüber den USA zahlreiche Vorstöße in diese Richtung. Er will international in Atomfragen zusammenarbeiten, ruft zum Abbau aller Atomwaffen auf und zieht die russischen Truppen aus Afghanistan ab. Als weltweit historischer Durchbruch und formales Ende des Kalten Krieges wird die 1987 von Gorbatschow und dem damaligen Präsidenten der USA, Ronald Reagan, unterzeichnete „Nulllösung“ international gefeiert. Sie beinhaltete die Beseitigung aller Mittelstreckenraketen in beiden Ländern.

Reform- und Entspannungspolitik stellt auch die Verhältnisse in den sozialistischen Staaten Osteuropas massiv in Frage

Gorbatschow gesteht den Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes, zu denen auch die DDR zählte, das Recht auf eigene Entwicklung zu. Somit hebt er 1988 die „Breschnew-Doktrin“ auf. Darin hatte sich die Sowjetunion seit 1968 das Recht vorbehalten, militärisch einzugreifen, wenn sie in einem Land des Warschauer Paktes den Sozialismus gefährdet sah.

Berliner Mauer am 3. Oktober 1990. Foto: RIA Novosti archive, image #428452 / Boris Babanov / CC-BY-SA 3.0, Wikimedia gemeinfrei

Die neue Freiheit führt 1989 zu einer Reihe überwiegend friedlicher Revolutionen in Osteuropa. Auch in der DDR demonstrieren die Menschen für Freiheit und Unabhängigkeit. Gorbatschow lässt sie gewähren. Er verzichtet auf den Einsatz dort stationierter sowjetischer Truppen und ermöglicht so die die deutsch-deutsche Einheit. In einem Treffen mit Bundeskanzler Helmut Kohl 1990 gesteht Gorbatschow einem vereinten Deutschland die volle Souveränität und die freie Wahl der Bündniszugehörigkeit zu. Im selben Jahr wird er von seiner Partei zum ersten Staatspräsidenten der UdSSR gewählt.

Michail Gorbatschow als Sündenbock

Zu Beginn der Regierungszeit projizierte die Bevölkerung der Sowjetunion zunächst alle Träume von einem besseren Leben auf den neuen Generalsekretär. Gorbatschow versprach einen allgemeinen Aufschwung des Landes, bessere Wirtschaftsleistung, Entbürokratisierung, demokratische Mitwirkung und einen höheren Lebensstandard – eine optimierte Version des real existierenden Sozialismus. Die Politik von Perestroika und Glasnost setzte jedoch einen dynamischen, unkontrollierbaren Prozess in Gang, der in wenigen Jahren die Grundpfeiler der sowjetischen Ordnung zum Einsturz brachte. Ende Dezember 1991 trat Gorbatschow zurück, die Sowjetunion hörte auf zu existieren, die russländische Föderation unter Führung von Präsident Boris Jelzin trat die rechtliche Nachfolge an. Für den Kollaps des Landes und alle negativen Ergebnisse, die der Reformprozess gebracht hatte, wurde Gorbatschow verantwortlich gemacht. So überzogen die anfangs in ihn gesetzten Erwartungen, so übertrieben dann die kritischen und ablehnenden Beurteilungen. Gorbatschow dient seither in Russland als Sündenbock und negative Integrationsfigur.

„Ich habe gekämpft bis zum Ende, aber es sind einfach zu viele Dinge auf einmal passiert.“

Michail Gorbatschow in einem ZDF-Fernsehinterview

Ein tragischer Held und ein Vorbild

Der Gorbatschow-Biograph, William Taubmann, führt seine Erfolge und Niederlagen auf seine Charaktereigenschaften zurück: neben Selbstbewusstsein, Tatkraft ebenso Nachgiebigkeit und Idealismus.

Vielleicht ist Gorbatschow als ein tragischer Held unserer Tage zu beschreiben. Was Michail Gorbatschow gewollt hat, den Kommunismus zu reformieren, hat er nicht erreicht. Und was er erreicht hat, den Kommunismus zu beseitigen, hat er so nicht gewollt.

Für mich persönlich ist Gorbatschow ein Held und ein Vorbild! 1989 trug ich, wie viele DDR-Bürger, einen „Gorbi-Sticker“ an meiner Jacke, als Zeichen der Hoffnung auf politische Veränderung. Bis heute sehe ich in Gorbatschow einen mutigen Menschen, der von der Idee der Offenheit und Menschlichkeit angetrieben, gegen Widerstände über das normale Maß hinausging.

William Taubman, Gorbatschow: Der Mann und seine Zeit. Eine Biographie, Erschienen bei C.H. Beck 2018.

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