Genau gegenüber der Frankfurter Paulskirche liegt derjenige Teil des Frankfurter Rathauses, der den Saal der Stadtverordnetenversammlung beherbergt. Von außen ist er durch hohe Fenster weithin zu erkennen. In diesem Saal hat am 20. Dezember 1963 der erste Frankfurter Auschwitzprozess begonnen, der größte Strafprozess der Nachkriegszeit in Deutschland.
Der Bundesgerichtshof, die oberste Instanz in Strafsachen, hatte zuvor das Landgericht Frankfurt am Main als Gerichtsstand bestimmt. Das Interesse der Öffentlichkeit war groß. Der Saal im Gericht hingegen war bei weitem zu klein, so dass man auf den Saal im Rathaus auswich.
Im Kampf mit dem Bösen
115 Jahre zuvor hatte sich das Frankfurter Rathaus als zu klein erwiesen, um die erste deutsche Nationalversammlung aufzunehmen. So bezogen schon die 574 Abgeordneten des Vorparlaments die evangelisch-lutherische Paulskirche gegenüber, der größte Konferenzraum, der in Frankfurt damals zur Verfügung stand. Betritt man heute die Paulskirche über ihren Haupteingang im Turm, ist zunächst ein schachtartiges schmales Tonnengewölbe zu durchschreiten. Das Gewölbe wird indirekt beleuchtet von Lichtstrahlern, die kleinen Fackeln gleich an den Wänden des fensterlosen Ganges angebracht sind.
Die meisten Besucher eilen durch diesen Gang, als sei er nur ein Zwischenraum, in dem es nichts zu sehen gibt. Hält man jedoch inne, erblickt man im Bogenfeld über dem Eingang zum Innenraum ein Relief. Es zeigt den Erzengel Michael im Kampf mit dem Drachen, Sinnbild für Kampf mit dem Bösen. Seit der Schlacht auf dem Lechfeld 955 gilt der Erzengel Michael als Schutzpatron Deutschlands.
Auch am Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, dem letzten der Nationaldenkmale aus dem Geist des 19. Jahrhunderts, ist er als Torwächter angebracht. Mochte man 1913 das Böse als Bedrohung von außen wähnen, wusste man es 1948, beim Wiederaufbau der kriegszerstörten Paulskirche, besser. In Wahrheit ist das Böse eine Macht, die als Möglichkeit menschlicher Freiheit, in unserem Innern lauert.
Ein Aufruf „gegen Vergessen“
Damit ist der Ton gesetzt – der Ort, der hier betreten wird, ist kein Triumphbau, sondern ein Aufruf „gegen Vergessen“. Nämlich zu erinnern, dass eine Nation sich auch für das Böse entscheiden kann. Dass sie auch als geeinte Nation sich ihren destruktiven Kräften immer wieder stellen muss. Dass auch die Demokratie einer Selbstbindung bedarf, einer Verfassung mit Grundrechten, Gesetzesbindung und Gewaltenteilung, wie sie hier 1848/49 erstmals erarbeitet und beschlossen worden ist.
Der Torweg ist der erste, aber auch der letzte Raum, den der Besucher der Paulskirche durchschreitet. Mit dem Eindruck des lichterfüllten Plenarsaals strebt man nach draußen. Doch hier wird es erneut noch einmal eng. Blickt man voraus, erscheinen im Fluchtpunkt nun, als wäre der Gang von vornherein auf sie ausgerichtet, die hohen Fenster des Saales der Stadtverordnetenversammlung.
Der Zivilisationsbruch vor Gericht
Wer die „Wiege der deutschen Demokratie“ (John F. Kennedy) verlässt, blickt auf das Rathaus, den Ort kommunaler Willensbildung. Auf jene Institution also, in der Demokratie überall im Land täglich neu hervorgebracht wird. Dazu sind wir alle aufgerufen. Weiter, und das konnten die Architekten des Wiederaufbaus nicht voraussehen, ist genau dieser Saal der Ort, wo die Nation sich dem Zivilisationsbruch, den sie beging, erstmals in selbst veranstalteten Gerichtsverfahren gestellt hat.
So stellt der Blick aus der Paulskirche, dem „Haus der Deutschen“ (Theodor Heuss), unmittelbar vor Augen, worin die Legitimität der deutschen Nation seit 1945 gründet: Sie kann als Nation nur bestehen und fortbestehen, wenn sie sich als ein Volk der Umkehr („Nie wieder!“) versteht. Das ist die Botschaft der Paulskirche in ihrer Gestalt von 1948. Innen, im Plenarsaal, vermittelt sie diesen Gedanken in abstrakter Form: Demokratie bedarf der Rechtsstaatlichkeit. Der Ausblick aus dem Torweg macht die Botschaft dann konkret. An der Rückseite der Paulskirche gibt es seit 1964 auch ein eigenes Mahnmal für die Opfer der Gewaltherrschaft. Weil rückseitig, findet es aber wenig Beachtung. Umso wichtiger ist der Ausblick, wenn man ihn zu lesen weiß.
Zum Autor (Text und Bild): Ansgar Kemmann arbeitet als Geschäftsführer Projekte / Programme für den Bürgerverein Demokratieort Paulskirche e. V. in Frankfurt am Main.
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