Demokratiegeschichten

Jüdische Emanzipation und die Arbeiterbewegung vor 1933

Jacob Hirsch ist Politikwissenschaftler und Mitglied bei Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

Die moderne Geschichte der Juden in Deutschland ist eng an unsere Demokratie- und Emanzipationsgeschichte gebunden. Auch der Arbeiterbewegung, die sich im Zuge der Industrialisierung und der Revolution von 1848 entwickelte und eine maßgebliche Rolle in der Revolution von 1918/19 spielte, kam eine Schlüsselrolle in der Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu. Sie schuf einen Emanzipationsraum, in dem nicht nur die unterdrückte Arbeiterschaft einen Platz hatte. Auch Jüdinnen und Juden konnten sich hier unabhängig von ihrer Herkunft einfinden und Teil der Bewegung werden.

Antisemitismus und Emanzipation

Juden leben nachweislich seit 1700 Jahren in Deutschland. Die deutsch-jüdische Geschichte ist zugleich eine Geschichte der Judenfeindlichkeit und des Lebens als Minderheit in einer mehrheitlich christlich geprägten Gesellschaft. So wurden Jüdinnen und Juden immer wieder Opfer antisemitischer Polemik und Gewalt. In Form des christlich tradierten Antijudaismus oder ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch durch Ausprägungen des Rassenantisemitismus und modernere Formen der Judenfeindlichkeit.

Die formelle rechtliche Gleichstellung von Jüdinnen und Juden erfolgte erstmals 1791 in Frankreich und war unmittelbar an die Forderungen der Französischen Revolution geknüpft. Als Folge der napoleonischen Besatzung erlangten auch die Jüdinnen und Juden in den linksrheinischen Gebieten 1798 erstmals die bürgerlichen Grundrechte. Dies war ein klares Novum auf deutschem Boden. Denn hier hatten beispielsweise Jüdinnen und Juden in Preußen nach wie vor unter zahlreichen gesetzlichen Einschränkungen wie dem Ausschluss von bürgerlichen Gewerben und hohen Sonderabgaben zu leiden. Zwar erließ auch Preußen 1812 ein Emanzipationsedikt für Jüdinnen und Juden. Dieses war allerdings an starke Auflagen gebunden und fand in den neu erworbenen Landesteilen keine Anwendung.

Letzten Endes traten nach der französischen Herrschaft jedoch häufig wieder alte Gesetzgebungen in Kraft. Auch Bayern erließ 1813 ein Matrikelgesetz, das festlegte, wie viele jüdische Familien in den Gemeinden leben dürfen. Beides bezeugt die tradierte, in die Gesellschaft und ihre Institutionen verwobene Judenfeindlichkeit. Jedoch wird zu diesem Zeitpunkt auch ein allmähliches Aufweichen ebendieser Strukturen erkennbar.

Vor allem das konservative Kleinbürgertum stellte sich gegen eine jüdische Emanzipation. Es waren vor allem Liberale, die dieser Entwicklung positiv entgegenblickten – jedoch nur in Verbindung mit einer umfassenden Assimilation. Während sich ein Ausweg aus der Diskriminierung bisher vornehmlich über die Taufe vollzogen hat, wurde im späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert allmählich der Grundstein für eine bürgerliche Emanzipation gelegt. Dabei waren es vor allem Juden wie Gabriel Riesser, die sich energisch gegenüber der Mehrheitsgesellschaft aktiv dafür einsetzten.

Aufstieg ins Bürgertum

Ein Schlüsselereignis in dieser Entwicklung waren die Wahlen für das Paulskirchenparlament 1848. Bei diesen verfügten Jüdinnen und Juden erstmals über das volle Wahlrecht. Und auch wenn die Revolution von 1848 scheiterte, so beschloss die Frankfurter Nationalversammlung, darunter auch Riesser, doch immerhin die rechtliche Gleichstellung der Jüdinnen und Juden. 1869 wurde diese im Norddeutschen Reichstag und nach 1871 im Deutschen Reich zur gesetzlichen Realität.

In der Folge gelang den meisten Jüdinnen und Juden in Deutschland der soziale Aufstieg in das Bürgertum. Insbesondere in den Städten etablierte sich eine starke bürgerlich-jüdische Mittel- und Oberschicht, die überwiegend liberal eingestellt war.

Zwar gab es weiterhin Jüdinnen und Juden in schlichteren Verhältnissen. Doch fanden sich in der Landbevölkerung sowie in der Arbeiterschaft, mit verhältnismäßig kleinen Ausnahmen in Berlin und dem Ruhrgebiet, nur wenige jüdische Menschen wieder. Anders als in Osteuropa oder Emigrationsländern wie England oder den USA.

Umso auffälliger ist deshalb der überproportionale Anteil an jüdischen Personen, die von Beginn an politische Schlüsselpositionen für die deutsche Arbeiterbewegung einnahmen. So trugen sie zu ihrem rasanten Aufstieg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beitrugen. Allen voran sind hier der Frühsozialist und Pionier des Zionismus Moses Hess sowie der ebenfalls aus jüdischer Familie stammende Karl Marx zu nennen.

Die Arbeiterbewegung als Emanzipationsraum

Die deutsche Arbeiterbewegung stellte einen politischen Emanzipationsraum, in dem Juden sich ohne Vorbehalte gegenüber ihrer Herkunft beteiligen konnten. Anders als in Osteuropa, wo Juden weniger mehrheitsgesellschaftlich integriert waren und eingeschränkteren Zugang zu nichtjüdischen politischen Organisationen hatten, bot insbesondere die deutsche Arbeiterbewegung Möglichkeiten für politisches Engagement.

Die Herkunft – mag sie nun konfessionell, national oder völkisch definiert sein – war dort angesichts des Credos von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht von Relevanz. Wohingegen Jüdinnen und Juden milieubedingt kaum zur sozialdemokratischen Wählerschaft zählten, waren unter den SPD-Reichstagsabgeordneten dauerhaft acht bis zwölf Prozent jüdisch (Arno Herzig).

Jüdische Aktivist:innen in der Politik und Arbeiterbewegung

Diese überproportionale Beteiligung in der Arbeiterbewegung bedingte auch eine ebenso vielfältige Gestaltung und organisatorische Weiterentwicklung. So war es der aus Breslau stammende jüdische Politiker Ferdinand Lassalle, der 1863 den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverband gründete. Aus diesem ging letztlich die Sozialdemokratie hervor.

Signatur: 6/FOTA007339: Ferdinand Lassalle ca. 1845; Rechte: AdsD.

Auch der jüdische Fabrikant und Politiker Paul Singer konnte mit der Gründung des Demokratischen Arbeitervereins 1868 einen Grundstein für die Arbeiterbewegung legen. Während der Sozialistengesetze finanzierte er die Sozialdemokratie. Außerdem gründete er 1884 das Berliner Volksblatt als Vorgänger des Organs der deutschen Sozialdemokratie, dem Vorwärts. Darüber hinaus zählte Singer seit 1890 neben Alwin Gerisch und August Bebel zum Parteivorstand der SPD.

Signatur: 6/FOTA009119: Porträt SPD-MdR Paul Singer ca. 1905; Rechte: Gemeinfrei / AdsD.

Als Gegner der Kriegspolitik im Ersten Weltkrieg hat sich der ebenfalls jüdische Hugo Haase hervorgetan. Er gründete deshalb 1917 – noch bis 1916 selbst als einer der beiden SPD-Parteivorsitzenden fungierend – die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD). Ihr kam eine entscheidende Rolle in den revolutionären Geschehnissen von 1918/19 zu.

Signatur: 6/FOTA006653: Porträt USPD-Vorsitzender Hugo Haase, 1.11.1919; Rechte: AdsD.

Eine der bekanntesten jüdischen Personen in der Arbeiterbewegung war vermutlich Rosa Luxemburg. Die entschiedene Sozialistin und schließlich Mitbegründerin der Kommunistischen Partei 1919 prägte die Entwicklung der politischen Linken in Deutschland bis in die Gegenwart.

Vor dem Ersten Krieg war sie Wortführerin des linken Flügels der SPD. Als überzeugte Marxistin lehnte sie den von Eduard Bernstein geforderten Revisionismus der Sozialdemokratie entschieden ab. Ihr Ziel war die Überwindung des bestehenden kapitalistischen Systems zugunsten einer Realisierung sozialistischer Produktionsverhältnisse. Ihre damit verbundenen Ideen einer egalitären und nicht-elitären Gesellschaft umfassen dabei auch demokratische Prinzipien. Dies könne jedoch nur durch eine Emanzipation aller unterdrückter und ausgebeuteter Massen erreicht werden.

Signatur: 6/FOTA022134: Porträt Rosa Luxemburg ca. 1903; Rechte: Gemeinfrei / AdsD.

Jüdische Emanzipation in der Weimarer Republik

Die Geschehnisse im Verlauf des 19. Jahrhunderts führten Jüdinnen und Juden in die breitere Mitte der Gesellschaft. So auch in Kreise der aufkommenden Arbeiterbewegung samt ihrer Organisationen. Doch stellten auch die Jüdinnen und Juden in der Arbeiterbewegung keineswegs eine homogene Gruppe dar. Sie beschäftigten sich als Sozialistinnen und Sozialisten auch nicht per se nur mit jüdischen Themen, sondern mit gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen und Missständen. Ihr Jüdischsein spielte für viele wenn überhaupt nur eine Nebenrolle, wurde es doch oft ex negativo von Antisemiten hervorgehoben.

Insofern ist die Integration von Juden in die Arbeiterbewegung auch ein Indiz für die fortschreitende Assimilation des deutschen Judentums. Dies soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass trotz der fortschreitenden Assimilationstendenzen die Judenfeindlichkeit enormen Auftrieb erhielt. Während die Weimarer Republik, die als erste liberale Demokratie Deutschlands von ihren Feinden auch abwertend als „Judenrepublik“ bezeichnet wurde, den emanzipatorischen Höhepunkt des deutschen Judentums historisch markierte, fand diese Entwicklung durch die Shoah ihr tragisches Ende.

Artikel Drucken
Über uns 

1 Kommentar

  1. Barbara Hoppe

    2. April 2022 - 9:33
    Antworten

    Hallo Jacob,
    hab Dank für diesen sehr informativen Artikel über das mutige Engagement von Juden für die Entwicklung von Demokratie und Emanzipation in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts und bis zur NS-Zeit. Dieser Aspekt der deutsch-jüdischen Geschichte ist leider im öffentlichen Bewusstsein weitgehend in Vergessenheit geraten. Umso wichtiger sind wissenschaftliche Veröffentlichungen und Veranstaltungen, die den Kampf jüdischer Politiker für Freiheit und Gerechtigkeit in den Focus nehmen.
    Barbara Hoppe

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert