Demokratiegeschichten

God save the King

Es wirkt paradox: Das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland hat als eines von wenigen Ländern keine kodifizierte Verfassung. Trotzdem besitzt es eine der ältesten Parlamentstraditionen überhaupt. Auch sein Verfassungsrecht reicht bis ins Mittelalter zurück. Wie passen diese Punkte zusammen?

Eines unter vielen

Im Gegensatz zu anderen Staaten verfügt das Vereinigte Königreich über keine kodifizierte Verfassung. Somit sind die Rechte und Grenzen einzelner Staatsorgane in keinem Einzeldokument festgehalten, wie es etwa in der Bundesrepublik der Fall ist.

Stattdessen basieren die rechtlichen Grundlagen des Vereinigten Königreiches auf mehreren Quellen. Zu dieser Sammlung von Texten, auch als „British Constitution“ bezeichnet, und daher oftmals als „Konstitution“ übersetzt, bzw. interpretiert, gehören u.a.:

  • Gesetzesrecht
  • Common Law (Gewohnheitsrecht)
  • überlieferte Konventionen, die quasi Verfassungsrang haben und unveränderbar sind
  • Darstellungen/Interpretationen von Verfassungsprinzipien.

Wie aber wird Recht gesprochen, wenn es keine Verfassung gibt?

Das Common Law beinhaltet die Rechtsprechung anhand von Präzedenzfällen. Es werden also Musterentscheidungen getroffen, auf die man sich im Falle neuer Streitfälle bezieht. So entwickelt sich die Rechtsprechung weiter, der Ausgangspunkt ist stets der konkrete Fall und nicht eine allgemeine Regel.

Grundprinzipien

Festgelegt ist außerdem die Form des zentralen Einheitsstaats, das heißt, dass die Staatsgewalt über das gesamte Staatsgebiet von der Hauptstadt (London) ausgeht. Daneben steht die Rechtsstaatlichkeit, die Gesetze als höchsten Maßstab für Entscheidungen setzen. Als oberster Souverän beschließt, verändert und setzt das Parlament die Gesetze um. Die Parlamentssouveränität stellt das Parlament über alle anderen demokratischen Institutionen, auch über die Exekutive und Judikative.

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Schaubild des politischen Systems des Vereinigten Königreichs.

Natürlich gibt es auch im Vereinigten Königreich Grundprinzipien, die nicht zur Debatte stehen. Dazu gehören etwa die Staatsform der konstitutionellen Monarchie und die Herrschaftsform der repräsentativen Demokratie. So hat das Vereinigte Königreich nach wie vor einen König als Staatsoberhaupt, aber als Regierungschef den gewählten Premierminister.

Dass die Rolle des Parlaments im Vereinigten Königreich so stark ist und dort nicht etwa auf Grundlage der reinen Volkssouveränität regiert wird, ergibt sich u.a. aus schon benannten rechtlichen Grundlagen, die einige Jahrhunderte zurückgriffen. Mit diesen erkämpfte sich das Parlament gegenüber den Monarchen mehr Rechte, seine Macht bezieht sich nicht auf das Gesamtvolk – obgleich die Abgeordneten natürlich wie in anderen Demokratien gewählt sind.

Historische Dokumente

Als eine der wichtigsten Quellen des englischen Verfassungsrecht gilt die Magna Charta. Im Streit mit den Baronen musste König Johann Ohneland Zugeständnisse machen, um einen Bürgerkrieg zu verhindern. Die „große Urkunde der Freiheiten“ stammt aus dem Jahr 1215 und markierte den Beginn des britischen Parlamentarismus durch das Zugeständnis von politischen Mitspracherechten an den Adel. Dadurch schränkte sie die Macht des Königs ein, der (oder die) fortan nicht mehr uneingeschränkt herrschen konnte.

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Ein Original der Magna Carta, Foto: gemeinfrei.

1689 dann hatte der Parlamentarismus endgültig seinen Durchbruch. Im Zuge der Glorious Revolution, in der sich das Parlament gegen die Monarchie durchsetzte, erließ ersteres die Bill of Rights. Die Bill of Rights verpflichtete den König beispielsweise dazu, dass Parlament in regelmäßigen Abständen einzuberufen. Des Weiteren brauchte er nun u.a. dessen Zustimmung zur Erhebung von Steuern und Abgaben und zum Unterhalt eines stehenden Heeres in Friedenszeiten. Erstmals genossen die Parlamentsabgeordneten Immunität: Sie hatten Redefreiheit im Unterhaus und mussten sich für Vergehen nur noch vor diesem selbst, aber nicht mehr vor dem König oder seinen Gerichten verantworten.

Weitere historische Dokumente, die als „Meilensteine“ der englischen Verfassung gelten sind etwa die Petition of Rights (1628) und das Habeas Corpus Gesetz (1679).

Und der König?

Nach wie vor ist das Königshaus Teil des britischen Regierungssystems. Doch welche Rechte hat der aktuelle Monarch tatsächlich?

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Charles III., König von England

Obwohl sich die Rolle des Königs hauptsächlich auf Zeremonien beschränkt, hat er weiterhin verfassungsmäßige Befugnisse. Dazu gehören etwa:

  • Das Einsetzen der Regierung: Am Tag nach der Wahl fordert der König die Chefin oder den Chef der Partei, die die meisten Sitze erhalten hat, zur Regierungsbildung auf. Vor einer neuen Wahl löst er zudem das Parlament formell auf.
  • Die Eröffnung des Parlaments: Alljährlich eröffnet der König die Sitzungsperiode des Parlaments und verließt das Regierungsprogramm der kommenden zwölf Monate.
  • Zustimmung zu Gesetzen: Nachdem beide Kammern ein Gesetz bestätigen, muss auch der König seine Zustimmung geben. Theoretisch könnte also Charles III. seine Zustimmung verweigern und ein Gesetz kippen. Faktisch ist dies zuletzt 1708 passiert, als Queen Anne von diesem Recht Gebrauch machte.
  • Eingreifen bei Verfassungskrisen: Sollte es zu einer „schweren Verfassungskrise“ kommen, kann der britische Monarch gegen den Ratschlag der Regierungsmitglieder handeln. Auch dies ist in der Moderne noch nicht vorgekommen.
  • Ernennung von Lords und Rittern: Mit den Lords ernennt der König Mitglieder des Oberhauses. Dies erfolgt allerdings nur in Absprache mit der Regierung. Zum Ritter werden Bürger:innen geschlagen, die sich auf die ein oder andere Art und Weise verdient gemacht haben.

Blick in die Zukunft

Dass sich in naher Zukunft etwas an der Verfassungs-Situation des Vereinigten Königreichs ändert, ist unwahrscheinlich. Weder der Brexit noch das schottische Unabhängigkeitsreferendum lösten Rufe nach Reformen aus. Vielmehr scheint gerade durch das Common Law eine Flexibilität der Gesetzgebung und Rechtsprechung gegeben zu sein, die das Parlament auf außergewöhnliche Situationen reagieren lässt.

Dieser Beitrag ist Teil der Blog-Reihe „In guter Verfassung“. Mit ihr möchten wir verschiedene gegenwärtige und historische Verfassungen vorstellen und dabei zeigen, wie sie Staaten und Menschen beeinflusst haben – und von diesen beeinflusst wurden.

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Über uns 
Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

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