Demokratiegeschichten

Gewaltsamer Superlativ der Protestgeschichte – das Blutbad vor dem Reichstag (II)

Teil I dieses Beitrags ist hier zu finden.

Erste Handgreiflichkeiten arten aus

Flugblatt der USPD, mit dem die Partei um neue Mitglieder wirbt (1918). Quelle: Bundesarchiv, B 145 Bild-P050139 / Weinrother, Carl / CC-BY-SA 3.0

Zunächst halten Angehörige der USPD, der KPD und der Betriebsrätezentrale politische Reden, werben erneut für die Räterepublik und verdammen das geplante BRG. Doch als die Reden fertig sind, löst sich die Menge nicht auf – Kalkül der Veranstaltenden oder schlichte Fehlkalkulation? Grundsätzlich ist die Veranstaltung jedenfalls schlecht organisiert. So gibt es beispielsweise nicht annähernd genug eigene Ordner und zu Absprachen mit den Sicherheitskräften ist es im Voraus der Demonstration auch nicht gekommen.

Die Demonstrierenden beleidigen zunächst einzelne Abgeordnete der Nationalversammlung, die dabei sind, das Gebäude zu betreten, und gehen sie dann auch körperlich an. Bald kommt es auch zu ersten Rangeleien und körperlichen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Sipo-Männern. Aufgebrachte Demonstrierende nehmen mehreren Polizisten ihre Waffen ab, anschließend verprügeln sie die Uniformierten.

Andere Polizisten wehren sich daraufhin mit Kolbenschlägen ihrer Gewehre. Obwohl es jetzt wohl zu ersten Schüssen aus der Menge Richtung Reichstagsgebäude kommt, verhalten sich die meisten Demonstrierenden ruhig und versuchen sogar, körperliche Angriffe ihrer radikaleren Mitprotestierer gegen Polizisten zu verhindern.

Die Schuld liegt bei den anderen

Wie es schließlich zur Eskalation kommt, ist bis heute umstritten und, wie zu erwarten, sehen die Schuld beide Seiten bei der jeweils anderen. Die einen machen die Demonstrierenden verantwortlich, da sie es gewesen seien, die zuerst versuchten, gewaltsam ins Reichstagsgebäude einzudringen. Erst daraufhin habe die Sipo das Feuer, auch mit Maschinengewehren, eröffnet.

Die andere Seite wiederum behauptet, dass die Sicherheitskräfte grundlos und ohne Vorwarnung geschossen hätten. Handgranaten, wie manche Berichte andeuten, werfen sie aber vermutlich nicht (ein Einsatz wäre in dieser Situation wenig effektiv, eher sogar gefährlich für sie selbst, was die kriegserfahrenen Sipo-Männer wissen).

Die Sicherheitspolizei ist Anfang der 1920er Jahre schwer bewaffnet, auch mit Panzerwagen wie diesem (um 1921). Quelle: gemeinfrei

In jedem Fall bricht, nachdem die Sipo das Feuer mit eröffnet, Panik unter den Demonstrierenden aus und die Menge flieht in alle Richtungen. Die Polizisten stellen das Feuer erst nach mehreren Minuten ein. Hinweise darauf, dass zu diesem Zeitpunkt von den Demonstrierenden zurückgeschossen wird, gibt es nicht.

Die genaue Anzahl der Opfer ist nicht bekannt. Manche Quellen gehen von 20, andere von bis zu 42 Getöteten aus; 100 bis 105 Verletzte gibt es wohl. Damit ist der Protest vom 13. Januar 1920 in jedem Fall die blutigste Demonstration der deutschen Geschichte.

Vergeblicher Blutzoll

Feststeht außerdem, dass die meisten Toten und Verletzten südlich des Reichstags Richtung Tiergarten gefunden werden. Dort bestand nachweislich ein recht großer Abstand zwischen Polizisten und Demonstrierenden. Einen Sturm auf das Gebäude durch die Demonstrierenden oder Rangeleien mit Sicherheitskräften, wie die Regierung später behauptet, hat es hier also wohl kaum gegeben.

Die Nationalversammlung verabschiedet das Betriebsrätegesetz an diesem Tag nicht mehr. Nachdem sie nachdrückliche Hinweise erreicht, dass es zu Toten und Schwerverletzten gekommen sei, wird die Sitzung für den Tag geschlossen. Das Parlament verabschiedet das BRG dann aber fünf Tage später, Anfang Februar tritt es in Kraft.

Der Staat schlägt zurück

Am nächsten Tag verhängt die Regierung zunächst über Preußen den Ausnahmezustand und verbietet Versammlungen unter freiem Himmel sowie fast 50 Zeitungen der Opposition. Die Polizei verhaftet namhafte Mitglieder der USPD und der KPD sowie völlig unbeteiligte, aber prominente Anarchisten.

Die Angst vor Straßenkämpfen wie hier während des sogenannten Spartakusaufstandes im Januar 1919 ist groß nach dem Blutbad vor dem Reichstag. Quelle: Illustrirte Zeitung, gemeinfrei

In den sehr links stehenden Teilen der Arbeiterschaft löst dieses Vorgehen zwar Empörung und weiteren Protest aus. Die übrige Öffentlichkeit, vor allem Bürgerliche und Sozialdemokratie, solidarisieren sich aber eher mit der Sipo. Die Erinnerungen an die Straßenkämpfe nach Zusammenbruch des Kaiserreichs und die Angst vor einer bolschewistisch inspirierten Revolution sitzen tief. Und so führt das Blutbad vor dem Reichstag letztlich nur zu einem: Die Spaltung der Arbeiterparteien in Deutschland vertieft sich, was zur Schwächung beider führt und letztlich ihr Untergang wird.

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Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

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