Teil I dieses Beitrags finden Sie hier.
Während der Nacht vom 12. auf den 13. Juni wurden beladene Kohlewagen, Betonklötze, Kipploren mit Kohle und andere sperrige Materialien auf den Gleisen und den Zufahrtsstraßen zum Werk platziert, so dass den Demontagearbeitern und der britischen Begleitung der Zugang zum Werk nicht möglich war. Am 13. Juni 1949 morgens früh zwangen die Bergkamener die Arbeiter der Dortmunder Demontagefirma Müller zur Rückkehr. Einige Hundert, überwiegend Frauen und jüngere Menschen, bewaffnet mit Gartenschläuchen, warteten ihnen auf. Walther Rotsaert berichtete, dass es dabei zu einem „kleinen Unfall“ gekommen sei.
Er sprach wahrscheinlich von den Prügeln, die der britische Offizier Miller von den Witwen der bei einem Grubenunglück ums Leben gekommenen Bergleute bezogen hatte. Sie hatten ihn mit dem Demontageunternehmer Müller verwechselt. Die Briten verhielten sich zunächst passiv, warfen aber der deutschen Polizei vor, ihrer Dienstpflicht nicht nachgekommen zu sein, um den Bau der Sperren und Barrikaden zu verhindern. Somit wurde deutlich, dass die Polizei auf Seiten der protestierenden Bevölkerung stand, so Rotsaert. Die Briten verzichteten auf eine Konfrontation mit der Polizei. Man wollte offensichtlich nicht, dass die Polizei vor den Augen der Deutschen gedemütigt werden sollte, vermutete Rotsaert.
Als der Direktor der Chemischen Werke, Dr. Löpmann am Montagmorgen, dem 13. Juni, erschien, wurde ihm von seinen Mitarbeitern mitgeteilt, dass die Demontagearbeiter von ihnen zur Rückkehr „angespornt“ worden seien. Ungefähr gegen 9.00 Uhr wurde Dr. Löpmann von der Militärregierung informiert, dass er sich gegen 11.30 Uhr in seinem Büro zur Verfügung halten sollte. Inzwischen war ein Mr. Wright vor Ort, um mitzuteilen, dass zu seinem Leidwesen die Chemischen Werke militärisch besetzt würden.
Es waren mittlerweile belgische Truppen vor Ort, die unter dem Kommando des britischen Kreiskommandanten aus Unna, Lieutenant Colonel Baker in Aktion traten. Die Truppen waren am 13. Juni um 9.30 Uhr mit einem schriftlichen Befehl aus Unna in Marsch gesetzt worden. Nachdem die Barrikaden und andere Hindernisse von der Zufahrtstraße zum Werk und die Zechenbahngleise geräumt waren, drang Unterleutnant R. Stennit, Chef der Panzerabwehr der schweren Waffenkompanie der 4. Linie ins Werk ein. Die Waffen waren teilgeladen, ein Schießbefehl sollte nur durch einen Offizier erfolgen. Das war ein Indiz für die vorsichtige und umsichtige Vorgehensweise der Belgier bei ihrem Einsatz.
Einige hundert deutsche Arbeiter befanden sich auf der Werkstraße, bewaffnet mit Schüppen, Eisenstangen und Pickhacken und nahmen eine drohende Haltung ein. Die jungen belgischen Soldaten blieben aber ruhig und besonnen, und die Werksarbeiter zogen sich dann zurück. Binnen einer Stunde waren die Chemischen Werke besetzt.
Langfristig erreichten die Protestierenden jedoch trotzdem ihr Ziel, auch dank internationaler Entwicklungen und Verhandlungen, die außerhalb ihres Einflussbereiches lagen. Im Petersberger Abkommen vom 22. November 1949 zwischen den Hohen Kommissaren und der Neuen Bundesregierung wurde die Chemischen Werke Bergkamen neben anderen Unternehmen von der Demontageliste gestrichen.
Proteste und Widerstand: Frühe demokratische Entwicklung
Wie ist der manifestierte Widerstand und der Protest in Bergkamen gegen die Demontage mit Blick auf einen demokratischen Lernprozess zu bewerten? Raimund Lammersdorf berichtet in seinem Beitrag in dem Buch Demokratiewunder unter dem Titel: „Das Volk ist streng demokratisch“ über einen Besuch der American Civil Liberties Union (ACLU) vom Frühjahr 1948 in den westlichen Besatzungszonen und einem Bericht der High Commission for Germany von 1954 über die deutsche Befindlichkeit und die politische Situation in der Kanzlerdemokratie Adenauers.[1]
Beide Analysen stellen übereinstimmend fest, dass obrigkeitsstaatliches Denken und Handeln der Deutschen und auch ihr unterentwickeltes Bürgerrechtsbewusstsein eine Gefahr für die junge Demokratie seien. Es wurde aber auch festgestellt, dass die Westdeutschen zweifellos auf dem Weg zur Demokratie seien, wenn auch nicht nach amerikanischem Vorbild. Der vorauseilende Gehorsam der Deutschen könnte auch dazu führen, Vorzeigedemokratie zu werden.
Vergleicht man diese Analysen mit dem Ablauf der Proteste und Widerstände von allen Beteiligten in Bergkamen 1949, so lassen sich sehr wohl demokratische Strukturen konstatieren. Die Gewerkschaften, die Kirchen, die Wirtschaftsvertreter und die Bevölkerung, aber auch die gerade gegründeten Gebietskörperschaften testen ihre neuen Gestaltungsspielräume in der gerade entstehenden Demokratie aus. Sie formulieren ihre Anliegen so, dass sie möglichst auf Interessengleichheit mit den Entscheidern hinauslaufen. Auch die Presse nimmt ihre demokratische Funktion wahr, nicht nur Informationen, sondern auch verschiedene Argumente aller am Konflikt beteiligten Seiten national und international zu verbreiten und so einer öffentlichen Debatte Raum zu geben.
In diesem Kontext ist die Besprechung, die am 7. September 1946 im Rathaus in Unna stattfand, hinsichtlich einer demokratischen Entwicklung sehr bemerkenswert. Hier ging es um die Forderung, die Betriebsgenehmigung für die Chemischen Werke zu erlangen. Aus heutiger Sicht war die Konstellation der Gesprächsteilnehmer sehr ungewöhnlich, aber sehr demokratisch: Minister, Regierungspräsident, Vertreter der Wirtschaft, der Parteien und der Gewerkschaft sowie Kommunalpolitiker zur gleichen Zeit am Konferenztisch, das war sicherlich der außerordentlichen Notlage geschuldet. Auch nach der Bildung der Länder mit gewählten Parlamenten und Regierungen, blieb die kommunale Ebene ein Ausgangspunkt für den gesellschaftlichen Neubeginn in der Zeit zwischen Krieg und politischer Neuordnung.
Für die Entwicklung der Demokratie in Westdeutschland war das von entscheidender Bedeutung. Das Interesse an Politik und dem Aufbau der Demokratie war in der Bevölkerung sehr begrenzt. So beklagte sich Alfred Gleisner in seinem Situationsbericht von Januar bis September 1948, dass die Politik in Deutschland nicht ermutigend sei. Die Menschen würden sich nur noch über das Essen unterhalten und darüber „ob die Russen kommen“. Die Leistungen seien immer geringer und somit auch die Produktion. Gleisner prangerte in dem Bericht die mangelnde Bereitschaft an, sich aktiv in der Politik zu beteiligen.[2]
Seine Beobachtungen wurden auch schon im Bericht der Militärregierung vom 1. bis 31. Januar 1946 in Arnsberg bestätigt, in dem das Desinteresse der Bevölkerung an der Politik festgestellt wurde.[3] So heißt es dort, dass sämtliche Kreise übereinstimmend meldeten, die Einwohnerschaft sei kaum für politische Parteiarbeit zu gewinnen und stellte fest, der Prozentsatz liege bei ungefähr einem Prozent der Bevölkerung. „Die Gründe für diese Apathie liegen auf der Hand und sind schon früher aufgezeigt worden.“
Nach dem Studium
der Beiträge von Raimund Lammersdorf und anderer Autoren in „Demokratiewunder“
und der örtlichen und regionalen Berichte von Alfred Gleisner und den
Militärbehörden ist unschwer festzustellen, dass die Demokratiewerdung in
Westdeutschland ein schwieriger und komplexer Prozess war. Am Beispiel der
Proteste in Bergkamen ist aber auch zu erkennen, dass der demokratische
Lernprozess nach Kriegsende an der Basis der Gesellschaft stattgefunden hat.
Peter Schäfer ist nach unternehmerischer Tätigkeit und nach langjähriger Zeit als Kommunalpolitiker seit dem Wintersemester 2009/10 im Studium des Alters an der WWW-Münster. Schwerpunkte seines Studium sind Geschichte, Politik und Sozialwissenschaften
Der komplette Aufsatz findet sich hier auf der Publikationsseite der Universität Münster.
Literatur/Fußnoten
[1] Lammersdorf, Raimund in: Bauerkämper, Jarausch, Payk (Hrsg.): Demokratiewunder, Göttingen, 2005, S. 85ff.
[2] Holtmann, Everhard, Nach dem Krieg ist vor dem Frieden, Hrsg. Kreis Unna, Köln 1985, S. 241ff.
[3] Holtmann, Everhard, Nach dem Krieg ist vor dem Frieden, Hrsg. Kreis Unna, Köln 1985, S. 414ff.
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