Demokratiegeschichten

Fritz Borinski (1903-1988) – Ein Leben für die Bildung zur Demokratie

Demokratie lebt vom Engagement vieler zumeist nicht prominenter Menschen. Von ihnen zu erzählen, kann inspirieren und ermutigen.

Fritz Borinski hatte eine Leidenschaft für die politische Bildung. Er erlebte die Zerstörung der Weimarer Republik, ging nach England und kehrte nach 13 Jahren Exil zurück, um die Demokratie in Deutschland wieder mit aufzubauen.

Martha Friedenthal-Haase, emeritierte Professorin für Erwachsenenbildung mit Lehrtätigkeit in Tübingen, Jena und Boston, erzählt in dieser großen Biografie von einem homo politicus, Schrittmacher der Erwachsenenbildung und Wegbereiter der politischen Bildung in der Bundesrepublik. Sie erzählt von einem genialen Kommunikator, Mediator und Moderator, der das Gespräch besonders mit Andersdenkenden suchte. Die Autorin beschreibt seine Begabung, in jeder Lebensphase, sogar in großer Not, Menschen zu freier Gruppenbildung und zum gemeinsamen Lernen zu motivieren. Sie schreibt von ihm wie von einem Freund mit großer Wertschätzung und wissenschaftlich-kritischem Anspruch in einer Sprache, die die Lektüre zum Genuss macht.

Kindheit, Jugend und Berufsjahre bis zur Emigration

Fritz Borinski kam 1903 in Berlin zur Welt. Er entstammte einer ostjüdischen Familie. Die Eltern waren nach Berlin gekommen und anlässlich ihrer Heirat zum Protestantismus konvertiert. Nach dem frühen Tod des Vaters wirkten verschiedene christliche und jüdische Familienmitglieder an der Erziehung der beiden Söhne mit. Fritz lernte Toleranz und den gelassenen Umgang mit Heterogenität, entwickelte einen sozialen Realitätssinn und erkannte die Bedeutung von Politik.

Er bestand das Abitur mit Auszeichnung und studierte Jura in Leipzig. Er promovierte über ein staatswissenschaftliches Thema und entdeckte seine Leidenschaft für die Erwachsenenbildung. Sein Lehrer Professor Hermann Heller, zugleich Leiter des Leipziger Volksbildungsamtes, warb ihn für die damals fortschrittlichsten Einrichtungen der deutschen Volks-, Arbeiter- und Frauenbildung. Bis 1933 leitete er nacheinander studentische Arbeiterunterrichtskurse, Volkshochschulkurse, in Vollzeitanstellung ein Leipziger Volkshochschulheim und die Heimvolkshochschule Sachsenburg. Dann wurde er Assistent an der Leipziger Universität.

Ab 1924 baute er den Leuchtenburgkreis mit auf, einen über 150 Mitglieder umfassenden lebenslangen Freundeskreis, der sich als Teil der Jugendbewegung und des demokratischen Deutschlands verstand und jährlich mehrere Treffen zu politischen Themen veranstaltete. Und er engagierte sich in der SPD, insbesondere als Beiträger zu den „Neuen Blättern für den Sozialismus“.

Die Autorin nennt als Kraftquellen seine Überzeugung von der Bedeutung des Rechts, den demokratischen Sozialismus und einen christlichen Realismus. Ihm wurde klar, dass er keine Zukunft in Nazideutschland haben würde. 1934 emigrierte er nach England.

Emigration und Exil in England und Australien

Borinski fand mietfreie Aufnahme in einer internationalen Wohngemeinschaft der Quäker, für die er Deutschkurse hielt und Stadtteilarbeit leistete. Er studierte bei Karl Mannheim an der London School of Economics and Political Science und promovierte zum Thema „Staatstheorie in der Staatskrise“. Er plante seine Rückkehr in ein freies Deutschland.

Doch bei Kriegsausbruch wurde er zusammen mit anderen enemy aliens interniert und nach Australien verbracht. Auch auf dem Schiff und in den Internierungslagern organisierte er Bildungsarbeit für die Mitgefangenen, förderte sie in der Not, lernte Selbstbeherrschung, Selbsterziehung, Sachlichkeit und Vermittlung. Er verfasste eine Soziologie des Internierungslagers und einen Plan für die Bildung zur Demokratie im Nachkriegsdeutschland.

Ende 1941 wurde er als anerkannter NS-Gegner nach London zurückgebracht. Für ein englisches Publikum schrieb er eine Geschichte der deutschen Jugendbewegung. Er lernte Mitarbeiter des Bildungsministeriums kennen und entwickelte mit ihnen das Projekt einer Nichtregierungsorganisation zur Erneuerung des deutschen Bildungswesens. Die German Educational Reconstruction GER bestand von 1943-58 und schulte deutsche Emigranten und Kriegsgefangene für den Einsatz in der Bildungsarbeit in einem demokratischen Nachkriegsdeutschland. Bis 1947 war Borinski hauptamtlich für die GER tätig, leitete Kurse im GER-Zentrum Wilton Park und Schulungen in Gefangenenlagern. Einer der Absolventen, der spätere Politiker Ralf Dahrendorf, gab den Kursen die höchste Qualitätsnote. Viele der Absolventen gingen nach ihrer Rückkehr in die Politik oder die Journalistik.

In den 13 ungesicherten Jahren seines Exils entwickelte sich Borinski vom forschenden Staatswissenschaftler zum professionellen politischen Erwachsenenbildner. 1947 kehrte er zusammen mit seiner Frau Maja Kahn, die er in London kennengelernt und geheiratet hatte, nach Deutschland zurück. Nicht einmal die Ermordung seiner Mutter in der Schoah konnte ihn von diesem Vorsatz abbringen. Die britischen Verbindungen pflegte er weiter und die früheren deutschen, allen voran den Leuchtenburgkreis, aktivierte er neu.

Rückkehr und Wirken in der Bundesrepublik

Die Borinskis zogen in die britische Zone. Dort übernahm Fritz Borinski die Leitung der niedersächsischen Heimvolkshochschule Göhrde. Kern der Arbeit waren mehrmonatige Kurse für 18-35-Jährige, deren Welt zusammengebrochen war. Haltlose, unsichere, misstrauische, ängstliche, nihilistische, antipolitische und nicht selten wundergläubige junge Menschen sollten die Chance zur Besinnung, Klärung, Übernahme von Selbstverantwortung bekommen und nutzen.

Borinskis Ideal war die freie Mitbürgerlichkeit, dafür verlangte er pädagogische Autonomie. Zwar arbeitete er als SPD-Mitglied am Godesberger Programm mit, verfolgte selbst jedoch keine parteipolitischen Ziele, sondern eine integrative politische Bildungsarbeit im Horizont der europäischen Integration Deutschlands.

1954 übernahm er die Leitung der Bremer Volkshochschule, die er gesellschaftspolitisch profilierte. Sein Buch „Der Weg zum Mitbürger“ machte ihn bekannt. Inzwischen hatte er eine Vielzahl von Ehrenämtern in Volkshochschulverbänden auf Landes- und Bundesebene, in der Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und mit der UNESCO.

Von 1953-65 war er Politikberater im Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen. Er war der hauptsächliche Verfasser des Ausschuss-Gutachtens „Zur Situation und Aufgabe der deutschen Erwachsenenbildung“ (1960), der wohl einflussreichsten Veröffentlichung des Ausschusses.

Professor der Freien Universität Berlin

1956 wurde Fritz Borinski zum Professor auf den Lehrstuhl für Pädagogik der Freien Universität Berlin berufen. Erstmals wurde der Erwachsenenbildung der Vorzug vor den traditionellen pädagogischen Fachgebieten gegeben. Borinski baute das Fach mit besonderem Gewicht auf der politischen Bildung aus und förderte die Erwachsenenbildung als gesellschaftliche Aufgabe der Universität mit Abendvorträgen, Universitätskursen und internationalen Ferienkursen.

Er legte Wert auf Praxisbezug, stärkte die Professionalisierung im Fach Erwachsenenbildung und pflegte – „eine Sternstunde“ – die enge Zusammenarbeit mit dem politologischen Otto-Suhr-Institut. In der Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung war er überzeugt vom Recht der Jugend auf Protest und Erneuerung und hielt seinerseits an humanistischen demokratischen Werten fest. Mit 18 Dissertationen, die er bis zu seiner Emeritierung 1970 betreute, brachte er die Erwachsenenbildung auch als Wissenschaft voran.

Seiner Überzeugung nach brauchte Demokratie Erziehung. Politische Bildung müsse Missstände zeigen und bessern, Kritikfähigkeit und Urteilsbildung einüben, zur Initiative motivieren sowie Mut zu sich selbst und demokratisches Verhalten – Verantwortung, Achtung, Hilfe – fördern.

Fritz Borinski starb 1988. Für die Autorin ist seine Biografie „ein exemplarisches Leben des 20. Jahrhunderts“.

Informationen zum Buch

Martha Friedenthal-Haase, Fritz Borinski und die Bildung zur Demokratie. Geschichte eines Lebens zwischen Pädagogik und Politik, Bad Heilbrunn 2023, 411 S., ISBN 978-3-7815-2568-9 Print, ISBN 978-3-7815-6010-9 Digital.


Zum Autor des Beitrags: Michael Volkmann, Tübingen, Jg. 1954, Pfarrer i. R., Dr. der Sozialwissenschaften (Erwachsenenbildung), war 2003-2020 Pfarrer der Evang. Landeskirche in Württemberg für das Gespräch zwischen Christen und Juden und 2006-2015 Vorsitzender der Konferenz landeskirchlicher Arbeitskreise „Christen und Juden“ (KLAK) im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland.

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