Magdalena Zeller ist Leiterin des Projekts „Geist der Freiheit“ der KulturRegion FrankfurtRheinMain gGmbH. Diesen Beitrag hielt sie als Input „Einheit und Vielfalt in der regionalen Demokratiegeschichte“ auf der Jahrestagung AG Orte der Demokratiegeschichte in Leipzig am 26. September 2024.
I. Region und Regionalität
Regionaler Bezug
Wir alle stehen in einem regionalen Bezug. An unterschiedlichen Standorten ordnen wir uns immer auch einer größeren Einheit zu, und sei es einer Weltregion wie Westeuropa. Ist dann am Ende alles regional? Der lateinische Begriff „regio“ bezeichnet zunächst einmal eine Gegend, eine Landschaft. Die Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft präzisiert:
Was ist eine Region?
Eine Region ist „ein durch bestimmte Merkmale gekennzeichneter, zusammenhängender Teilraum mittlerer Größenordnung in einem Gesamtraum“. Region ist relativ, steht immer in Beziehung zu anderen, größeren und kleineren Einheiten, zu Teilregionen, Landesteilen, zu Staaten. Region ist nichts Stabiles, sie konstruiert sich immer wieder neu, situativ aus individuellen Lebensräumen, immer abhängig davon, welchen Maßstab wir wählen. Das gilt erst recht für die historische Betrachtung. Je nach Epoche, Thematik, nach Zeit-Raum-Wahrnehmung fällt die Abgrenzung sehr unterschiedlich aus. Karl Schlögel, Vertreter des Spatial turn Anfang der 2000er Jahre, plädierte dafür, das Bewusstsein für Raum und Epoche zu verbinden und in den Geschichtswissenschaften nicht von einem festen physikalisch-geographischen Raum auszugehen.
Region Rhein-Main
Als Leiterin des Projektes „Geist der Freiheit“, einem Projekt der Demokratiegeschichte in der Rhein-Main-Region, arbeite ich nicht nur in, sondern auch für eine Region. Allein daraus ergeben sich für meine praktische und inhaltliche Arbeit etliche Ambivalenzen. Projektträger ist die KulturRegion FrankfurtRheinMain, eine regionale Gesellschaft, ein Zusammenschluss von 50 Kommunen und Landkreisen, bundesländerübergreifend, in den Grenzen eines klar definierten Mitgliederbereichs. Bei der Betrachtung demokratiegeschichtlicher Prozesse überschreite ich diesen Bereich regelmäßig, abhängig vom Untersuchungsgegenstand. Beschäftige ich mich beispielsweise mit der Dynamik im Vormärz oder der Revolution 1848/49, dann müssen auch das Hambacher Schloss oder die Heppenheimer Versammlung, beides liegt nicht im Mitgliederbereich, mitgedacht werden.
Soziale Beziehungen
Insofern geht es bei der regionalen Betrachtung immer auch um soziale Interaktionen und Beziehungen. Daher macht es Sinn, den Begriff von Region um Überlegungen des Geografen Peter Weichhart zu „raumbezogener Identität“ zu ergänzen. Regionen werden demnach nicht nur relational konstituiert, sondern auch durch soziale Interaktion produziert. So ist die Rhein-Main-Region, wenn wir zum Beispiel den Zeitraum der napoleonischen Befreiungskriege untersuchen, kein statischer Ausgangspunkt, sondern ein Ergebnis, das sich aus verschiedenen Verflechtungen, Koalitionen, ideengeschichtlichen Einflüssen erst ergibt.
II. Warum ist gerade die „Region“ ein sinnvoller Bezugsrahmen für Demokratiegeschichte?
Jenseits administrativ-politischer Räume
Die ältere deutsche Geschichte, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, ist vor allem eine Geschichte der Territorien, der Landschaften, der Städte, der Klöster und Grundherrschaften. Für die Rhein-Main-Region wie für etliche andere Regionen gilt, dass sie niemals in der Geschichte eine territoriale Einheit bildeten, nie als Verwaltungsgebiet Teil eines größeren Ganzen und nie politisch eigenständig waren. Wollen wir also Räume erfassen, die stark territorial zersplittert waren, wie Südwestdeutschland, das heutige Hessen, Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz, dann kann die Demokratiegeschichte auf die regionale Perspektive gar nicht verzichten. Das zeigt sich insbesondere, wenn wir die Geschichte von Partizipation und Artikulation von Freiheitsrechten in der Vormoderne erzählen möchten, die etwa ihren Ausdruck in den Bauernaufständen vor 500 Jahren fand.
Eine transregionale Perspektive
Unabhängig von der Epoche erleichtert eine regionale Perspektive, die sich nicht auf einen festen administrativ-politischen Raum bezieht, auch den Blick über die Region hinaus, und ergibt sich eine transregionale Perspektive.
Verknüpfung als Methode und Thema der regionalen Demokratiegeschichte
Für die Demokratiegeschichte im Allgemeinen gilt, dass sie nicht an Stadt- und Landesgrenzen haltmacht. Es geht um Ideen, Köpfe, Kämpfe oder Widerstände. Gerade weil Regionen fluide Einheiten darstellen, fokussiert eine Demokratiegeschichte auf regionaler Ebene weniger auf den politischen Raum oder auf Verwaltungseinheiten. Ein historisches „Profil“ einer Region erzeugen wir vielmehr erst und immer wieder neu mit der thematischen Arbeit. Die Regionalgeschichte untersucht seit den 1970er Jahren Räume von eigener Bedeutung auf spezifische Fragen. Für die regionale Demokratiegeschichte sind das insbesondere Fragen nach Netzwerken, Wegen, Verbreitungsgebieten, Verknüpfungen jenseits staatlicher und rein lokaler Strukturen.Für die Rhein-Main-Region sind etwa von besonderem Erkenntnisinteresse die Netzwerke Ludwig Weidigs und Georg Büchners im Vormärz, Verbreitungswege der Flugschrift „Der Hessische Landbote“ oder auch die räumliche Konzentration von Orten, Ereignissen und Persönlichkeiten, die für den demokratischen Neubeginn nach 1945 bedeutsam waren.
Orte verknüpfen
Eine Region kann, wie ich sie oben definiert habe, im eigentlichen Sinn kein „Ort der Demokratiegeschichte“ sein, denn Orte bezeichnen Plätze, die konkret und geographisch markiert sind, wie z.B. im Projekt „Orte der Demokratiegeschichte. eine Deutschlandkarte“ Aber regionale Demokratiegeschichte verknüpft Orte. „Geist der Freiheit“ in der Rhein-Main-Region rund 180 Orte der Freiheits- und Demokratiegeschichte. Viele Orte machen wiederum eine Region, die in diesem Fall durch eine besondere Häufung an demokratiehistorischen Orten geprägt ist. Es gilt für die Regionalgeschichte insgesamt, dass sie „große Themen“ differenzieren und Besonderheiten aufdecken kann. Allgemeine Themen der Demokratiegeschichte können auf die kleinräumigere Untersuchungsebene heruntergebrochen werden, lassen sich konkret verorten.„Geist der Freiheit“ untersucht aktuell im Rahmen des Themenschwerpunktes „75 Jahre Grundgesetz“ die Rolle von Orten, Protagonistinnen und Protagonisten in der Rhein-Main-Region.
Lebensweltbezug und Geschichtsvermittlung
Die Region stellt für die meisten Menschen hierzulande den alltäglichen Bezugsrahmen dar. Arbeits-, Schulwege, Freizeitaktivitäten, der Konsum regionaler Produkte, die Energieversorgung oder Flächennutzungspläne – Region entspricht dem alltäglichen Erfahrungshorizont. Die regionale Perspektive kennzeichnet, trotz oder gerade als Reaktion auf Globalisierung, die Wahrnehmungsweise vieler Menschen. Die Geschichtsdidaktik betont den Wert des regionalen Nahraums für die Herausbildung eines historischen Bewusstseins. Gerade das historische Bewusstsein Heranwachsender bildet sich im alltäglichen Umfeld heraus. Die regionale Perspektive ist dabei kein biodeutsches Konzept. Der regionale Blick richtet sich nicht exklusiv auf „die Geschichte derer, die scheinbar schon immer da waren, sondern auch auf jene, die neu hinzukommen.“
Interesse an Regionalgeschichte
Eine geschichtswissenschaftliche Studie an der Universität Bielefeld unter Schülerinnen und Schülern zeigte, dass das Interesse an Regionalgeschichte nicht damit zusammenhängen muss, etwas über die Geschichte der eigenen Vorfahren erfahren zu wollen. Sie konstatierte ein überdurchschnittlich hohes Interesse an der Geschichte der eigenen Umgebung. Die regionale Perspektive stellt also auch für Lernende mit Migrationshintergrund keinen „geringeren“ Lebensweltbezug her. Regionale Demokratiegeschichte kann einen wichtigen Beitrag zur Vielschichtigkeit unserer Gesellschaft leisten. Demokratiegeschichte lässt sich als gemeinsame, aber nicht exklusive Erfahrung in der Region verorten.
Vielfalt durch Einbindung verschiedener Bereiche
Stütze der Regionalgeschichte ist in der Regel eine breite Basis von Akteuren, sind Vereine, Archive, Museen, Initiativen, geschichtsinteressierte Menschen. Das gilt auch für die regionale Demokratiegeschichte und die Arbeit des Projektes „Geist der Freiheit“, das immer wieder Akteure unterschiedlicher Bereiche miteinbezieht und verbindet. Viele verschiedene Perspektiven wirken mit, die entscheiden, was angesichts der Vielfalt der Geschichte für wichtig befunden und im regionalen Zusammenhang überhaupt thematisiert wird. Regionale Demokratiegeschichte ist mehr als nur ein zusammengesetztes Mosaik. Sie entdeckt Verknüpfungen, Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Trennendes. Heroen stehen neben vergessener Demokratiegeschichte, die durch Forschung, aber auch zivilgesellschaftliche Initiativen (Stichwort „Spurensuche“[) wiederentdeckt und gewürdigt wird, sich mit den bekannten Geschichten vernetzt. Die Region ist auch ein Experimentierfeld für verschiedene und neue Formen des zivilgesellschaftlichen Miteinanders.
Beispiel Protest gegen den Frankfurter Flughafen
Ein komplexes regionalgeschichtliches Beispiel ist die Geschichte der Protestbewegungen gegen den Frankfurter Flughafen. In puncto Flughafen-Ausbau und Lärmschutz trafen die Interessen zwischen Freizügigkeit, Wirtschaft, Ökologie und zukünftiger Lebensweise hart im regionalen Raum aufeinander. Die Region stellt den Bezugsrahmen dar, wenn wir einen der zentralen gesellschaftlichen Konflikte der Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre beschreiben wollen.
III. „Regionale Identität“ und Geschichtspolitik
Für politisch-strategische Ziele beruft man sich gerne auf die Regional- und Landesgeschichte, etwa wenn es darum geht, eine spezifische Identität zu vermitteln, beispielsweise für die Vermittlung von Gebietsreformen. „Regionale Identität“ ist dabei ein vielstrapazierter Begriff. Er meint mehr als Heimat. Heimat bleibt an den Ort gebunden, entspricht einem Gefühl, in der lokalen Umgebung angenommen zu sein. Regionale Identität betont den überörtlichen Zusammenhang, die Identifikation mit Materiell Fassbarem, aber auch immateriellen Werten. Als identitätsbildend werden, und das nicht nur im Regionalmarketing, immer wieder gerne Speisen und Getränke angeführt.
Prozesshaft und veränderbar
Was eine regionale Identität ausmacht, bestimmen letztlich stereotype Zuschreibungen auf die Region, Projektionen, die von vielen in einer Region geteilt werden − die sich aber auch ändern können: „… regionale Identität ist nicht wurzelhaft gewachsen, noch weniger angeboren, sondern durch Lebenspraxis, Kenntnis und Einsicht erworben„. Sie unterliegt daher ständigen Veränderungen und muss laufend erarbeitet werden. Begreifen wir also „regionale Identität“ als etwas Prozesshaftes, Beeinflussbares − welche Rolle spielen dann die regionale Demokratiegeschichte und Orte der Demokratiegeschichte, die sich regional verorten, für die Formulierung und Wahrnehmung einer „regionalen Identität“?
Ein Workshop
Die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung veranstaltete 2018 einen Workshop zur „regionalen Identität“: Vor dem Hintergrund einer zunehmenden räumlichen Polarisierung, der starken Abwanderung und dem Gefühl des „Abgehängtseins“ in vielen Regionen in Sachsen ging es darum, sogenannte Haltefaktoren zu ermitteln. Zu denen gehören auch weiche Faktoren, die man unter „regionaler Identität“ bündeln kann. Letztlich fragte der Workshop danach, wie die persönliche und emotionale Bindung von Menschen an bestimmte Orte und Gebiete gestärkt werden können. Methodisch berief sich der Workshop auf den eingangs erwähnten Peter Weichhart. Dessen Konzept von „raumbezogener Identität“ ist allerdings erst einmal völlig wertfrei nutzbar.
Bindung an demokratische Werte
Aus Sicht der Demokratievermittlung muss es der regionalen Demokratiegeschichte darüber hinaus um die Bindung an demokratische Werte und freiheitliche Traditionen gehen, die Menschen mit einer Region identifizieren. Die regionale Demokratiegeschichte hat Möglichkeiten, konkrete Orte und Themen als regionale Merkmale zu vermitteln und sichtbar zu machen. Eine Demokratiegeschichte, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist, bietet sich auf regionaler Ebene als unverzichtbarer „Identitätsanker“ an.
Plädoyer für eine regionale Demokratiegeschichte
Region als demokratiegeschichtliche Bezugsgröße kann sinnhaft und auch wirkungsmächtig sein. Die Region ist nicht irgendwo da draußen und will entdeckt werden. Indem wir uns mit historischen Bezügen und Verflechtungen beschäftigen, erschaffen wir die Region erst als Sinneinheit und zwar immer wieder neu. Regionale Demokratiegeschichte hat Einfluss darauf, was als Region und wie eine Region wahrgenommen wird. Gerade mittels ihrer verknüpfenden Perspektive jenseits politisch-administrativer Strukturen leistet regionale Demokratiegeschichte einen wichtigen Beitrag zur Demokratiegeschichte insgesamt. Regionale Demokratiegeschichte ist relevant und konkret, indem sie sich an einem für die Menschen wichtigen Bezugsraum orientiert. Regionale Demokratiegeschichte ist vielfältig in sich, sie kann unterschiedliche Bereiche im regionalen Umfeld einbinden.
Der vergleichende Blick
Die Demokratiegeschichte einzelner Regionen stellt die Grundlage für eine transregionale Perspektive dar. Der vergleichende Blick auf verschiedene Regionen macht letztlich die Vielfalt und Pluralität der deutschen Demokratiegeschichte insgesamt sichtbar, die vielfältigen, starken regionalen und föderalen Prägungen. Damit tragen regionale Perspektiven auch zur Entzauberung rechtspopulistischer Erzählungen von einem Volk und einer Nation bei und leisten einen wichtigen Beitrag gegen eine einseitige Vereinnahmung von deutscher Demokratiegeschichte.
1 Kommentar
Jörg Kraus
8. November 2024 - 22:43Ich habe den Artikel mit großem Gewinn gelesen und halte den regionalen Bezug auch für sehr wichtig.