Demokratiegeschichten

Eine spezifisch ostdeutsche Demokratiegeschichte?

Stephan Zänker ist Geschäftsführer des Weimarer Republik e.V. und Mitglied im Sprecherrat der AG Orte der Demokratiegeschichte. Diesen Beitrag hielt er als Input „Demokratiegeschichte aus ostdeutscher Perspektive“ auf der Jahrestagung der oben angesprochenen AG.


In diesem Jahr begehen wir den 75. Geburtstag des Grundgesetzes. Und allerorten ist die Besorgnis zu vernehmen: Was machen wir mit den Ostdeutschen? Sie waren ja gar nicht dabei, als die vorläufige Verfassung der Bundesrepublik erarbeitet wurde. Sie waren auch nicht dabei, als man sie mit Leben und Strukturen erfüllte. Sie waren nicht dabei, als die Demokratie aus bescheidenen Anfängen wuchs und in vielen Konflikten und Emanzipationsschüben an Kraft und Stabilität gewann. Sie kamen ja erst 1990 dazu, als alles schon fertig war.

Das Grundgesetz und seine Wurzeln

Dieser Sichtweise möchte ich deutlich widersprechen. Es ist eine falsche Annahme, das Grundgesetz sei 1948/49 quasi „erfunden“ worden. Nein, richtig ist, dass es auf frühere Verfassungen und demokratische Bewegungen aufbaute, auf die Freiheits- und Demokratiebewegung im 19. Jahrhundert, auf das Werk der Revolutionäre von 1848/49, auf die Weimarer Republik als erste deutsche Demokratie. Und all diese Ereignisse haben auch in Ostdeutschland stattgefunden. Das Grundgesetz verfügt also auch hier über Wurzeln – das genau ist ja der Mehrwert an Erkenntnis, wenn wir uns epochenübergreifend mit Demokratiegeschichte beschäftigen.

Der demokratische Neubeginn

Hinzu kommt: Den demokratischen Neubeginn nach 1945 gab es in allen Besatzungszonen, auch in der sowjetischen. Hier wurde er frühzeitig abgewürgt durch eine beginnende Diktatur, aber die Behauptung, es hätte ihn in Ostdeutschland gar nicht gegeben, ist einfach falsch. Und auch aus seiner Dynamik entwickelte sich das Grundgesetz. Einfach auch dadurch, dass an seiner Ausarbeitung in nicht unerheblichem Maße Menschen beteiligt waren, die zuvor aus der sowjetischen Besatzungszone geflüchtet waren: Hermann Brill etwa, der schon in der Weimarer Republik in Thüringen politisch aktiv war und dann 1945 erster Ministerpräsident, Ende des Jahres aber in den Westen ging und Chef der hessischen Staatskanzlei wurde.

Gespür für die Freiheit

Der millionenfache Zuzug aus dem Osten wirkte sich auch in den Jahren danach sehr wohl auf die Entwicklung der westdeutschen Demokratie aus. Oftmals hatten diese Menschen ein stärkeres Gespür dafür, welchen Wert Freiheit hat. Und haben sich aktiv dafür eingesetzt, sie in ihrer neuen Heimat zu bewahren und auszubauen. Etwa Hans-Dietrich Genscher, der wohl einer der berühmtesten Ost-Flüchtlinge war, aber nur einer von ganz vielen.

Ja zum Grundgesetz

Und als 1990 die DDR-Bürger dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitraten, da handelte es sich um eine bewusste Entscheidung, um ein Ja zu den Werten dieser Verfassung, um ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Und damit verbunden war eine ausgiebige Beschäftigung mit dieser Thematik. Ich behaupte, dass das Grundgesetz zu jener Zeit im Osten intensiver studiert wurde als im Westen. Und dass es deshalb einfach nicht stimmt, dass es den Ostdeutschen immer fremd geblieben sei.

Gemeinsame Demokratiegeschichte

Und dann: Seit 1990 sind immerhin 34 Jahre vergangen, 34 Jahre einer neuerlichen gemeinsamen Demokratiegeschichte, durchzogen mit gemeinsam erlebten Konflikten, Tiefschlägen und Sternstunden. Und wenn man mal von grob 250 Jahren deutscher Demokratiegeschichte im engeren Sinne ausgeht, dann fand sie nur zu einem kleinen Teil, nämlich etwa 40 Jahre lang, in getrennten Systemen statt. Es gibt viel längere Phasen der gemeinsamen Demokratiegeschichte.

Brauchen wir deshalb wirklich eine spezifisch ostdeutsche Demokratiegeschichte?

Ich meine: Ja. Denn es gibt ja durchaus Spezifika in der Geschichte der Demokratie in Ostdeutschland. Übrigens schon vor 1933: Hier entstanden besonders frühzeitig liberale Verfassungen, hier lag eines der Zentren der Demokratie- und der Arbeiterbewegung. Hier gab es in der Weimarer Republik besondere Entwicklungen und Ereignisse, etwa die Landesgründung Thüringens von 1920, die bis heute unterschätzt wird.

Doppelte Diktaturerfahrung

Und natürlich wirkt die doppelte Diktaturerfahrung im Osten bis heute nach. Die ostdeutsche Gesellschaft ist eine postkommunistische und in mancherlei Hinsicht der polnischen oder tschechischen ähnlicher als der westdeutschen. Daraus begründen sich Eigenheiten, die nicht negiert werden sollten.

Die falsche Messlatte

Es war nach 1990 ein Fehler, den Osten an einer angeblich bestehenden bundesrepublikanischen Norm zu messen, landläufig „Westniveau“ genannt. Es war ein Fehler zu glauben, man müsse das System der Bundesrepublik einfach übertragen und mit viel Geld ausstaffieren, um den Osten fest zu integrieren. Man tat es allzu oft von oben herab, aus der Chefposition heraus, mit ordentlich Überheblichkeit und Unkenntnis.

Minderheit und Opfer

Die Ostdeutschen gerieten zur Minderheit, zu irgendwie eingeschränkten, von der DDR-Diktatur seltsam geprägten Menschen, denen man mit Misstrauen begegnete. Oder zu Opfern stilisierte – erst zu Opfern des Zweiten Weltkrieges, dann zu Opfern der DDR und dann zu Opfern der Treuhand. Leider wurde diese Rolle von vielen Ostdeutschen angenommen, und dieser Umstand führte meiner Meinung nach hauptsächlich zu dieser wütenden Unzufriedenheit, die derzeit so erschreckend grassiert.

Grund zum Stolz

Dabei hätten die Ostdeutschen allen Grund, stolze Demokratinnen und Demokraten zu sein. Denn mit der Friedlichen Revolution von 1989 haben sie Deutschland ein großes Geschenk bereitet, eine Sternstunde der Geschichte. Mit Kerzen in der Hand haben sie eine waffenstarrende Diktatur zum Einsturz gebracht. Das ist ein bleibendes Verdienst! Hier in Leipzig ist das noch heute spürbar, hier wird an die dramatischen Ereignisse im Herbst 1989 erinnert. Aber wie sieht es woanders aus? Wie präsent ist das auf nationaler Ebene oder – man darf ja mal träumen – in Bayern oder Nordrhein-Westfalen?

Der 9. November – ein Versehen

Wenn an den Herbst 1989 erinnert wird, dann fällt auf, dass der Mauerfall vom 9. November das große Symbol darstellt, mit dem Brandenburger Tor als Ikone. Dabei war gerade dieses Ereignis wenig revolutionär, sondern ein Versehen der in Auflösung begriffenen Staatsmacht.

Zu wenig Aufmerksamkeit

Warum finden die Proteste gegen die Wahlfälschung im Mai 1989, warum finden die Demonstrationen im September und Oktober 1989, warum finden die Runden Tische und der Aufbau der Demokratie in der DDR so wenig Aufmerksamkeit? Oder der Verfassungsentwurf der letzten Volkskammer? Vielleicht liegt es ja daran, dass einzig der Mauerfall wirkliche Auswirkungen auf die alte Bundesrepublik hatte. Und alles andere heute eher unter Regionalgeschichte läuft.

Entschiedenes Einerseits-Andererseits

Brauchen wir also eine spezifisch ostdeutsche Demokratiegeschichte? Ja, wir brauchen sie. Aber wir sollten sie in differenzierter, abgewogener Weise erzählen. Eben mit einem entschiedenen Einerseits-Andererseits.

Teil der gesamtdeutschen Demokratiegeschichte

Ostdeutsche Demokratiegeschichte ist natürlich Teil der gesamtdeutschen Demokratiegeschichte. Es gibt gemeinsame Wurzeln, die wir gemeinsam pflegen sollten. Sie weist zugleich Spezifika auf, ebenso wie die bayerische oder die badische – und doch aufgrund der doppelten Diktaturerfahrung und aller sich daraus ergebenden Nachwirkungen auch ganz besondere.

Regionalität

Und man darf natürlich nicht vergessen, dass es auch innerhalb Ostdeutschlands große Unterschiede gibt. Thüringen hat eine ganz andere Demokratiegeschichte als Mecklenburg, obwohl beide Regionen zu Ostdeutschland gehören. Das ist aber bei Franken und Bayern oder Baden und Württemberg auch nicht anders. Um diese Spezifika zu verstehen und richtig einzuordnen, hilft der Ansatz der Regionalität in der Demokratiegeschichte. Er bewahrt uns davor, Nationalgeschichte zu überhöhen und Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten unnötigerweise zu problematisieren, statt sie als Bereicherung zu verstehen.

Europäische Perspektive

Und ich plädiere dafür, stärker die europäische Perspektive in der Demokratiegeschichte einzunehmen. Der Blick über den Tellerrand zeigt sehr schnell, wie unsinnig eine Normsetzung auf nationaler Ebene ist. Wie unsinnig es ist, die Entwicklung der alten Bundesrepublik zum Maß der Dinge zu erklären und ostdeutsche Eigenheiten zu ärgerlichen Abweichungen. Dann wird unser Bild von Demokratiegeschichte noch viel komplexer und unser Gegenstand somit zu einem viel reicheren Erfahrungsschatz.

Juwelen der Demokratiegeschichte

In diesem Schatz stellen die Ostdeutschen mit ihrer Demokratiegeschichte ein paar sehr schöne Juwelen dar. Sie sind zum Teil abgenutzt, waren schon verschollen, sind wieder aufgetaucht und ständig von Räubern bedroht. Aber sie funkeln noch, trotz aller Unkenrufe.

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2 Kommentare

  1. Rainer Kirmse , Altenburg

    12. Oktober 2024 - 12:38
    Antworten

    DER KAMPF DER OSTDEUTSCHEN FÜR DEMOKRATIE UND FREIHEIT

    Gedanken und Gedichte

    Der verlorene Zweite Weltkrieg,
    von der Wehrmacht in Gang gesetzt;
    hinterlässt ein traumatisiertes Land,
    geteilt und von den Siegern besetzt.
    Diese machen ihren Einfluss geltend,
    der zähe Kampf der Systeme beginnt.
    BRD und DDR entstehen,
    der Traum von der Einheit zerrinnt.
    Eintritt in NATO und Warschauer Pakt
    haben die Teilung perfekt gemacht.

    VOLKSAUFSTAND 53

    Stalin hatte mit harter Hand
    die SED ans Ruder gebracht.
    Diktatur überzog das Land,
    erhielt der Partei die Macht.

    Man befahl den Sozialismus,
    das Volk wurde nicht gefragt.
    Es wurde nur Stalinismus,
    jeder Widerstand war gewagt.

    Normerhöhung und Repression
    steigerten Ablehnung und Wut.
    Allerorten gärte es schon,
    aus den Funken wurde die Glut.

    In Berlin flammt das Feuer auf,
    Demonstrationen in den Straßen.
    Vom Gebirge bis zur See hinauf
    rebellieren zornige Massen.

    Man will ein besseres Leben,
    die Einheit nach freien Wahlen;
    will sich neue Hoffnung geben
    nach Weltkrieg und Hungerqualen.

    Dem Regime droht rasches Ende
    nach erbitterter Straßenschlacht.
    Herbeigeholte Sowjetverbände
    haben kurzen Prozess gemacht.

    Man ließ die Panzer auffahren,
    schlug den Aufstand blutig nieder.
    Wir woll’n das Andenken wahren,
    uns erinnern immer wieder.

    Euer Kampf war nicht vergebens,
    die Toten sind nicht vergessen.
    Wir erfreu’n uns freien Lebens,
    ihr seid die Vorreiter gewesen.

    MAUERBAU 61

    Das Regime in großer Not,
    die Wirtschaft vom Kollaps bedroht.
    Der Flüchtlingsstrom wächst täglich,
    Pankow’s Politik scheitert kläglich.

    Moskau gibt Ulbricht grünes Licht,
    moralische Bedenken gibt es nicht.
    Armee und Kampfgruppen steh’n bereit,
    am 13. August ist es soweit.

    Am Brandenburger Tor aufmarschiert,
    werden Sperren positioniert.
    In der Stadt Stellung bezogen,
    wird das Bollwerk hochgezogen.

    Tief geschockt zeigt sich der Westen,
    doch belässt man’s bei Protesten.
    Für Berlin riskiert man keinen Krieg,
    die SED verbucht einen Sieg.

    Für die Partei ein klarer Fall:
    Antifaschistischer Schutzwall.
    Eiskalt hatten die Genossen
    den letzten Fluchtweg geschlossen.

    EINHEIT IN FREIHEIT

    Eine Mauer hat uns getrennt,
    Kalter Krieg war omnipräsent.
    Für die Menschen in Ost und West
    ein permanenter Härtetest.

    Ein ganzes Land eingemauert,
    viel zu lange hat’s gedauert.
    Es war nicht mehr zu ertragen,
    man musste den Aufstand wagen.

    Die Ostdeutschen waren es leid,
    allzu groß ihr Drang nach Freiheit.
    Für Reiselust und freie Wahlen
    mussten Regime und Mauer fallen.

    Die Leute aus zwei Systemen
    konnten alle Hürden nehmen,
    haben Grenzen überwunden
    und zueinander gefunden.

    Wir haben uns friedlich vereint,
    vor Glück manche Träne geweint.
    Vierunddreißig Jahre ist’s her,
    nichts kann uns heute trennen mehr.

    Ist auch vieles schiefgelaufen,
    wir werden uns zusammenraufen;
    Unterschiede nicht ausblenden,
    die Deutsche Einheit vollenden.

    WIE STEHT’S UM DIE DEUTSCHE EINHEIT?

    Die Berliner Mauer ist gefallen,
    die Mauer im Kopfe nicht bei allen.

    Wir haben selbst erkämpft die Freiheit,
    leider macht sich Pessimismus breit.
    Es sind zu stellen noch viele Weichen,
    Lebensbedingungen anzugleichen.

    Unterschiede nicht wegdiskutieren,
    zum Wohle aller Menschen regieren.
    Von Meck-Pomm bis hin nach Baden
    kann etwas Zuversicht nicht schaden.

    Rainer Kirmse , Altenburg

    Herzliche Grüße aus Thüringen

    • Annalena B.

      14. Oktober 2024 - 9:47
      Antworten

      Vielen Dank für das Schöne Gedicht! Und beste Grüße nach Thüringen!

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