Emil Haarmann, 1889 – 1963, Stadtplaner in Hamm/Westf. 1926-1954, kommissarischer Oberbürgermeister 7. 4. – 15. 8. 1945
Was qualifiziert den heute selbst in Hamm fast in Vergessenheit geratenen Emil Haarmann zum „Demokraten des Monats“? Und das, obwohl er seit 1937 Mitglied der NSDAP war?
Nach der Eroberung Hamms durch amerikanische Truppen unter schweren Kämpfen hat er als kommissarischer Oberbürgermeister die demokratische Entwicklung Hamms in Gang gebracht und ihren weiteren Verlauf vorgeprägt. Er war der einzige leitende Beamte der Stadt, der zum Kriegsende nicht mit den Nazis geflohen ist. Vielmehr übernahm er während der letzten Kriegswoche und in den folgenden Monaten Verantwortung für die Stadt. So organisierte er ihr Überleben und das der 30.000 Einwohnerinnen und Einwohner.
Amtsführung als Verpflichtung und Verantwortung gegenüber der Bürgerschaft
Von Beginn seiner Tätigkeit als Baurat in Hamm im Oktober 1926 fühlte er sich gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt verpflichtet und verantwortlich. Diese Einstellung zeigte sich sowohl in der NS-Zeit als auch in den Nachkriegsmonaten und -jahren. Als die Nazis in Hamm die Macht an sich rissen, sollte er eigentlich auch als Leiter des Hochbauamtes entlassen werden. Die Nazis beließen ihn aber im Amt, weil sie keinen angemessenen Ersatz für ihn hatten. Sie beauftragten ihn sogar mit der Leitung der gesamten Hammer Bauverwaltung (Hoch- und Tiefbau). Und das, obwohl er sich weigerte, der NSDAP beizutreten. Dem Druck der Partei konnte er sich aber 1937 nicht länger entziehen. Ansonsten hätte er seiner Stadt und ihren Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr von Nutzen sein können.
Seiner Verantwortung gegenüber seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern konnte Haarmann dadurch gerecht werden, dass er in der zweiten Kriegshälfte das Bunkerbau-Programm forcierte. So stand schließlich für alle Einwohner und Einwohnerinnen ein Bunkerplatz zur Verfügung. Er schätzte die Schutzbedürftigkeit seiner Mitbewohnerinnen und Mitbewohner wegen der strategischen Bedeutung der Stadt als sehr hoch ein. Deshalb setzte er das Programm gegen großen Widerstand der NSDAP einschließlich des Oberbürgermeisters durch. Dieses Engagement verhinderte vor allem im letzten Kriegsjahr Tausende von zivilen Opfern.
Zuerst setzten US-Truppen ihn als kommissarischen Oberbürgermeister ein, dann bestätigte die britische Besatzungsmacht ihn zwei Tage später im Amt. Sofort versuchte er Personen aus der Bürgerschaft in die notwendigen Maßnahmen und Entscheidungen einzubinden. Außer auf die Reste der Stadtverwaltung konnte er dabei vor allem auf Vertreter der Hammer Arbeiterschaft in Gestalt ehemaliger Funktionäre aus den freien und den christlichen Gewerkschaften zurückgreifen. Die britische Besatzungsmacht blockierte diesen Versuch jedoch, weil sie Gewerkschaften nur auf Betriebsebene und nicht in der Politik dulden wollte.
Erste Schritte und Weichenstellungen der Demokratisierung
Bereits im Juni genehmigte ihm der britische Stadtkommandant jedoch einen „Bürgerrat“ aus sechs Vertretern der Parteien CDU (3), SPD (2) und KPD (1). Das Protokoll der ersten Sitzung des Bürgerrates hält die Begrüßung durch Haarmann fest:
„Der Oberbürgermeister begrüßte sämtliche Anwesenden. Er wies darauf hin, daß der Bürgerrat, obwohl ihm noch eine gesetzliche Grundlage fehle, den Anfang einer demokratischen Volksvertretung darstelle. […] Er freue sich, in dem Bürgerrat zwei bewährte Mitglieder des früheren Magistrats begrüßen zu können. Er wünsche, dass das schwere Unrecht, das man dem früheren Oberbürgermeister Schlichter bei seiner Entlassung im Jahre 1933 zugefügt habe, in Kürze wieder gutgemacht würde.“
Haarmann verstand also den Bürgerrat ausdrücklich als ersten Schritt auf dem Wege der Demokratisierung. Auch wenn ihn zunächst nur die Besatzungsmacht genehmigt hatte. Weil die sechs Männer zum überwiegenden Teil aus der Arbeiterschaft stammten, fiel ihnen die Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg leichter als „normalen“ Parteipolitikern. Haarmanns nächstes Ziel, das er mit dem Bürgerrat teilte, war die Wiedereinsetzung des ehemaligen Oberbürgermeisters Josef Schlichter (Zentrum). Dieser war 1933 aus dem Amt gejagt worden. Er übernahm am 15. August 1945 wieder sein altes Amt.
Auch hier hatten die Sprecher von CDU und SPD im Bürgerrat (Ferdinand Poggel und Peter Röttgen) den ehemaligen Oberbürgermeister gemeinsam mit einem britischen Offizier aus Berchtesgaden abgeholt. Der ehemalige OB hatte eine Bedingung an seine Rückkehr geknüpft. Und zwar sollten die Vertreter der beiden Parteien ihm versprechen, den alten Zwist aus der Weimarer Zeit zu beenden und für den Aufbau der Demokratie zusammenzuarbeiten. Er verstärkte so die von Haarmann entwickelten kooperativen Ansätze.
Vertrauensvolle Zusammenarbeit als Grundlage der demokratischen Entwicklung
Durch diese Weichenstellungen der ersten Nachkriegsmonate entwickelte sich ebenso zwischen Bürgerschaft und Verwaltung ein Klima vertrauensvoller Zusammenarbeit. Dies vermerkte mit Erstaunen der Historiker Wilhelm Ribhegge, unter dessen Regie zu Beginn der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts eine „Geschichte der Stadt und Region Hamm im 20. Jh.“ (1991, S. 390) entstand. So habe es bis 1947 keine größeren Spannungen zwischen Stadtvertretung, Verwaltung und Militärregierung gegeben. Die frühe und reibungslose Kooperation der großen Parteien erinnere fast an eine „Große Koalition“.
Nach den ersten freien Kommunalwahlen in NRW fand sich denn auch die Hälfte der Mitglieder des ehemaligen Bürgerrates in führenden Positionen in Politik und Verwaltung Hamms wieder.
Offizielle Wertschätzung Haarmanns für seinen selbstlosen Einsatz
Bei der feierlichen Entpflichtung Haarmanns und der Wiedereinsetzung Schlichters als Oberbürgermeister lobte sowohl der britische Stadtkommandant als auch der damalige Regierungspräsident in Arnsberg, Fries (SPD), Haarmann ausdrücklich für seine kommissarische Führung der Amtsgeschäfte: Er habe durch seinen unermüdlichen Einsatz das Vertrauen der Besatzungsmacht gewonnen und die Bürgerinnen und Bürger Hamms vor Seuchengefahr und Hungersnot bewahrt, indem er sich in ihrer schwersten Stunde der Stadt bedingungslos zur Verfügung gestellt habe. Er werde daher zum Stadtbaurat ernannt (heute etwa Baudezernent).
Nazi-Aktivist oder nur nominelles Parteimitglied?
Wegen seiner Mitgliedschaft in der NSDAP sollte er 1947 als Nazi-Aktivist aus dem Amt entfernt werden. Als solcher war Haarmann während seines Entnazifizierungsverfahrens gegenüber der Sicherheitsabteilung der britischen Militärregierung in Arnsberg angeschwärzt worden. Diese befahl zu Weihnachten 1946 seine sofortige Entlassung. Entgegen der Anweisung seiner Vorgesetzten beließ der britische Stadtkommandant Emil Haarmann vorläufig in seinem Amt. In Absprache mit dem neuen Oberbürgermeister Poggel (CDU) sollte der Abschluss des Berufungsverfahrens abgewartet werden.
Dort wurde Haarmann völlig rehabilitiert und entlastet – und bleibt das auch aus heutiger Sicht im Gegensatz zu manchen anderen Rehabilitierungen. In einem der vielen Entlastungszeugnisse schrieb der von den Nazis entlassene ehemalige Hammer Verwaltungsdirektor Wortmann, der Haarmann seit 1926 kannte:
„Herr Haarmann war meines Erachtens lediglich ein nominelles Mitglied der NSDAP. Er hat sich ab April 1945 sofort und vorbehaltlos für den Aufbau einer neuen demokratischen Verwaltung zur Verfügung gestellt und sein Amt unter Zurückstellung persönlicher Wünsche im demokratischen Sinne in vorbildlicher Weise verwaltet. (…) Am 15. 8. 1945 hat ihm der Herr Regierungspräsident für die Führung der Geschäfte des Oberbürgermeisters gedankt und ihn in die Stelle des Stadtbaurates berufen. Herr Haarmann hat durch sein Verhalten und durch seinen vorbehaltlosen Einsatz seiner ganzen Person ab April 1945 den Nachweis erbracht, dass er in einer demokratisch geführten Verwaltung als leitender Beamter am rechten Platze ist.“
Mit Erreichen der Altersgrenze wurde Emil Haarmann im November 1954 pensioniert. Er starb 1963 an einem Gehirnschlag.
Zum Text und Verfasser:
Der Blogbeitrag beruht auf einer Arbeit, die im Seminar „Forschendes Lernen: Demokratiegeschichte(n) vor Ort 1900 – 2000“ im Rahmen des ‚Studium im Alter‘ an der WWU Münster entstanden ist. Die vollständige Arbeit kann hier abgerufen werden: https://miami.uni-muenster.de/Record/1e5b1687-ac51-46e0-a6b9-3497d69d14f2 .
Otto Gertzen, wohnhaft in Münster, 73 Jahre, Sommer 1991 bis Sommer 2013 Lehrer an der Friedensschule Hamm (Gesamtschule der Stadt Hamm). Seit WS 2013/14 Studium im Alter an der WWU Münster.
1 Kommentar
Berndt Steincke
27. März 2022 - 19:03Man freut sich über solche Geschichten. Sie sind eine Ausnahme gegenüber den vielen Persilschein-NS-Aktivisten, die in der Nachkriegszeit völlig unberechtigt rehabilitiert wurden.