In diesen Tagen ist wieder viel von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes die Rede. Ich stelle mir dann immer eine große Frühstückstafel vor, an der Erwachsene darüber diskutieren, wie sie das gemeinsame Kind Grundgesetz denn nun erziehen wollen. Stark und selbstbewusst soll es werden, sich gegen Anfeindungen verteidigen können, aber doch nicht hochmütig auftreten, so dass es anderen gegenüber ungerecht wird.
Die Erwachsenen am Tisch streiten dabei nicht, sie reden konzentriert, denn die Lage ist ernst. Die ältere Schwester des kleinen Grundgesetzes, die Weimarer Verfassung, konnte sich selbst nicht schützen vor Einflüssen, die sie schließlich zum Scheitern gebracht haben. Das darf dem jüngeren Bruder in keinem Fall ebenfalls passieren. Denn die Not der Schwester hat die ganze Familie und viele andere in den Abgrund geführt.
Einer fehlt am Tisch
Die Mütter und Väter gedenken im Rückblick nun eines Mannes, der auch an ihre Tafel gehört hätte, viel mehr als andere von ihnen. Nur lebt der Mann leider nicht mehr. Dabei hatte er gewarnt. Er hatte vorhergesehen, was mit der Schwester passieren würde. Er hat alles dafür getan sie zu retten, aber vergebens. Der Mann hieß Hermann Heller, und an ihn möchte ich zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes erinnern, weil er viel zu selten genannt wird.
Der sozialdemokratische Staatsrechtler Hermann Heller hat wie kaum jemand sonst gesehen, wohin die Weimarer Republik drohte abzudriften. Er war Theoretiker, aber ebenso leidenschaftlicher Praktiker, mittendrin im Geschehen. Gemeinsam mit Gustav Radbruch versuchte er während des Kapp-Putsches in Kiel 1920 zu vermitteln und wäre beinahe hingerichtet worden. Später besuchte er Italien und lernte dort die Funktionsweise des Faschismus kennen. In der Auseinandersetzung um die Gleichschaltung vertrat er 1932 die sozialdemokratische preußische Landtagsfraktion gegen das Reich und dessen berühmten Anwalt Carl Schmitt.
Hellers Theorie des Staates orientierte sich dementsprechend streng am Menschen und an der gesellschaftlichen Wirklichkeit, weniger an naturrechtliche oder gar biologistische Vor-Festlegungen. Heller schreibt in der Staatslehre:
„gesellschaftliche Wirklichkeit ist menschliche Wirksamkeit, ist menschlich gewirkte Wirklichkeit.“
Heller war überzeugter Demokrat und scheute den Meinungsstreit nicht. Er legte sich mit dem späteren Nationalsozialisten Carl Schmitt genauso an wie mit dem Rechtspositivisten Hans Kelsen, der „Recht“ und „Moral“ streng getrennt betrachtete. Ihm setzte Heller seine Vorstellungen eines materiellen, also auf Werte gegründeten Rechtsstaats entgegen. Sein Ansinnen war es immer mitzuhelfen, eine starke Demokratie zu entwerfen. Damit legte er nebenbei bemerkt auch Grundsteine für das spätere Verständnis von Politikwissenschaft in Deutschland. Hier kann er ebenso als Vaterfigur gelten wie für das Grundgesetz.
Soziale Gräben schließen
Hermann Heller sah aber auch die Gefahr, die von größeren sozialen Gräben in der Gesellschaft ausgehen. Vor allem deshalb, weil er den Einfluss der öffentlichen Meinung für die Demokratie erkannte. Laut Heller kann ein demokratischer Staat nur dann funktionieren, wenn in der Gesellschaft eine relative soziale Homogenität herrscht, also die Einkommensschere nicht zu weit auseinanderklafft. Ohne diese soziale Homogenität gibt es auch in den Interessen und in der schließlich veröffentlichten Meinung keine ausreichende Übereinstimmung. Das wiederum gefährdet die Einheit des Staates. Er wusste dabei um die Bedeutung einer guten Bildung für alle und engagierte sich selbst in der Arbeitervolkshochschule.
Hermann Heller war und ist auch umstritten. Ein Streitpunkt mit anderen Sozialdemokraten war zum Beispiel seine nationale Gesinnung. Mit der Sozialistischen Internationalen konnte er wenig anfangen. Dies würde sicherlich auch heute für Diskussionen sorgen, ebenso wie seine Vehemenz in der Verteidigung der Demokratie. Die müsse man, so Heller, notfalls auch mit massiver Gewalt durchsetzen.
Wie auch immer, Hermann Hellers Lehren von der sozialen Homogenität waren 20 Jahre später Blaupause für die Verankerung der sozialen Demokratie in das deutsche Grundgesetz. Ebenso wirkte sein Gegenentwurf zur positivistischen Rechtssicht seiner Zeit in den Entschluss hinein, den Menschenrechten nun eine herausragende und vor Aushöhlung besser gesicherte Stellung in der Verfassung zu gewähren.
So hatten die Mütter und Väter des kleinen Grundgesetzes also geschaut, dass die Fehler, die in der Erziehung der älteren Schwester gemacht wurden, in Zukunft tunlichst vermieden würden, auf dass das Grundgesetz groß und stark und gerecht werden konnte. Hermann Heller hatte ihnen bei dieser unglaublichen Aufgabe sehr geholfen.
Staatslehre bis heute aktuell
Heller selbst war 1933 im spanischen Exil an Folgen eines Leidens aus dem Ersten Weltkrieg gestorben. Es dauerte tatsächlich bis in die 1960er-Jahre, bis sein unvollendetes Hauptwerk, die „Staatslehre“ (veröffentlicht 1934 in Leiden), wieder neu aufgelegt wurde. Es wäre der heutigen Demokratie als menschlich gewirkte Wirklichkeit sehr förderlich, wenn man an den Frühstückstafeln politischer Entscheidungen wieder öfter an Hermann Heller denken würde.
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