Demokratiegeschichten

Die Lehren der Pandemien: Die Spanische Grippe

Angst – Gerade in unseren Zeiten von Covid19 ein sehr dominantes Thema. Die Meldungen überschlagen sich. Was jetzt noch Aktualität hat, ist in fünf Minuten vielleicht überholt. Wir klicken uns von Nachricht zu Nachricht. Verfolgen bangend, was Virologen und Politiker uns über das Fernsehen verkünden. Seuchen provozieren ein Gefühl der Machtlosigkeit im Angesicht des unsichtbaren Gegners – nicht nur heute. Schon vor 100 Jahren gab es dieses Phänomen: Während der Spanischen Grippe.

Ausbruch der Grippe

Die „Spanische Grippe“ oder auch „Influenza-A-Virus H1N1“ – So lauten die Bezeichnungen des Virus, der zwischen 1918 bis 1919 Millionen von Menschen dahinraffte. Doch trat das Virus tatsächlich zum ersten Mal in Spanien auf, wie es der Name vermuten lässt? Tatsächlich ist dem nicht so. Wahrscheinlich sprang die Grippe im Bundesstaat Kansas von Schweinen oder Kühen auf einen US-Rekruten über. Da noch bis zum 11. November 1918 der Erste Weltkrieg tobte, reiste die Krankheit als blinder Passagier auf den Kriegsschiffen der US-Marine nach Europa. Hier verteilte sie sich über den gesamten Kontinent.

Obwohl die steigenden Infektionen von den Behörden registriert wurden, verhinderten die meisten Staaten eine Berichterstattung. Man wollte die Bevölkerung nicht beunruhigen und die Moral der Truppen nicht untergraben. Der Neutralität Spaniens ist es zu verdanken, dass dort Artikel zum Thema in den Zeitungen erschienen. So wurde aus einem bis dato unbekannten Virus die „Spanische Grippe“.

Verlauf in drei Wellen

Die erste Welle der Infektionen blieb in der Öffentlichkeit zunächst relativ unbemerkt. Die Grippetoten hielten sich zahlenmäßig in Grenzen: Im Frühjahr 1918 erkrankten zwar viele, wenige starben jedoch. Dies änderte sich mit der zweiten Welle im Herbst 1918. Die meisten Patient*innen waren innerhalb von zwei Tagen tot. Heute wissen wir, dass das Virus zwischenzeitlich mutiert war. Es passte sich seinem neuen Wirt – dem Menschen – an. Die Letalitätsrate stieg deutlich.

Ähnlich wie Corona befiel die Spanische Grippe vor allem die Atemwege der Patient*innen. Es führte zu „hohem Fieber, bellendem Husten, sowie heftigen Kopf- und Gliederschmerzen“. In Folge des Sauerstoffmangels färbte sich die Haut dunkelblau. Einige der Infizierten bluteten sogar aus Nase und Ohren. Zusätzlich kam es häufig zu einer bakteriellen Lungenentzündung, die die Verfassung der Erkrankten weiter verschlechterte. 

Der „Zykotin-Sturm“

Interessant ist, welche Altersgruppen an der Spanischen Grippe verstarben. Aus den Erfahrungen mit Covid19 und anderen Erkrankungen sind wir es gewohnt, dass es zumeist geschwächte Patient*innen trifft. Wir schützen unsere Älteren und Personen mit Vorerkrankungen – unsere „Risikopatienten“. Diese Regel setzte die Spanische Grippe außer Kraft. Es verstarben vornehmlich Menschen im „widerstandsfähigstem Alter“ von 15-40 Jahren. Das liegt wohl im sogenannten „Zykotin-Sturm“ begründet. Das gute Immunsystem der jungen Patienten attackierte gesunde Zellen in einer Überreaktion. Die Konsequenz: Abfallprodukte aus diesem Kampf des Körpers verstopften nach und nach die Lungenarterien. Der Tod erfolgte durch Ersticken.

Reaktionen

Die Öffentlichkeit reagierte im Herbst 1918, als die Tödlichkeit der zweiten Welle um sich griff. Hatte man den ersten Ausbruch noch als „natürlich“ wahrgenommen, folgte nun Panik. Verschwörungstheorien aller Couleur wurden verbreitet. In den USA und Frankreich galt der Ausspruch, man habe das Virus den „deutschen Agenten“ zu verdanken. Vorbeugend gegen die Grippe wurden von vielen fleißig „Formamint“-Tabletten eingenommen: Eine Mischung aus „Formaldehyd und Milchzucker“, die von innen desinfizieren sollte. Dass das enthaltene Formaldehyd giftig ist, schien nur wenige zu interessieren.  

Auch die Politik versuchte, die Grippe durch Hygiene-Maßnahmen unter Kontrolle zu bringen. Dabei entschieden – anders als heute – die Lokalverwaltungen über die notwendigen Schritte. Schulen wurden teilweise geschlossen, Theater blieben jedoch geöffnet: Die Bevölkerung sollte in der andauernden Kriegssituation bei Laune bleiben. Besonders „Reinlichkeit“ wurde als das Gebot der Stunde deklamiert – man solle fleißig Gurgeln und sich die Hände waschen. 

Die Chancen

Die dritte Welle erfolgte in den Jahren 1919/1920, war aber weitaus weniger infektiös und tödlich. Dies hing wohl zum einen mit einer gesteigerten Immunität der Bevölkerung zusammen. Zum anderen hatte der Ausbruch der Spanischen Grippe als „Mutter aller Pandemien“ für einer gesteigerte Sensibilität gesorgt, was zur Verhinderung weiterer Wellen beitrug. Man war sich bewusster, wie mit einem solchen Virus umzugehen war. Auch wenn es bis zur Entdeckung des Influenza-Virus noch bis zum Jahr 1933 dauern sollte und ein Medikament noch lange nicht in Sicht war: Aus der Spanischen Grippe ließen sich soziale und medizinische Lehren ziehen.

Diese Lernfaktoren sind letztlich auch die Chance einer solchen Katastrophe. Sie sind das Pendant zur Machtlosigkeit und Angst. Pandemien wie die Spanische Grippe, aber auch Covid19, sind Herausforderungen an die Menschheit. An ihnen wachsen wir und lernen gemeinsam – wenn auch in räumlicher Trennung. 



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Über uns 
Michèle W. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.

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