Demokratiegeschichten

Die Integration der „Grenzlandvertriebenen“ – ein absehbarer Fehlschlag

Der Erste Weltkrieg formte die Ordnung Europas grundlegend neu. Gebietsabtretungen wie im Falle des Deutschen Reichs und der Zerfall der alten Imperien (Österreich-Ungarn, russisches Zarenreich, Osmanisches Reich) führten dazu, dass sich viele Menschen in völlig anderen Staaten wiederfanden. Auch die Weimarer Republik trat in dieser Hinsicht ein herausforderndes Erbe an. Die junge Demokratie war von Anfang an aufgrund der Grenzverschiebungen von tiefgreifenden Migrationsbewegungen geprägt.

Plötzlich nicht mehr in der Heimat

In diesem Zug entstand die Gruppe der „Grenzlanddeutschen“. So bezeichnete man diejenigen Deutschen, die nach dem Krieg in Gebieten lebten, die das Deutsche Reich an seine Nachbarstaaten im Zuge des Versailler Vertrags abtreten musste. Dazu gehörten etwa Teile von Ostbelgien, Elsass-Lothringen, Gebiete in Polen und der Tschechoslowakei.

Auch in der demokratischen Weimarer Republik sahen es nicht wenige als Ziel an, diese von Deutschen besiedelten Gebiete wieder ins Reich einzugliedern. Besonders aktiv waren etwa die „Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung“ in Leipzig und das „Institut für Grenz- und Auslandsstudien“ in Berlin. Nicht erst die Nationalsozialisten wollten diese Regionen „heim ins Reich“ holen.

Die territorialen Folgen des Versailler Vertrags für das Deutsche Reich. Quelle: Matthias Küch, CC BY-SA 3.0 DEED

Revisionismus als nationale Pflicht

Für viele war es nicht nur eine Herausforderung, sondern gar eine nationale Pflicht, diese Gebiete für Deutschland zurückzugewinnen. So definierte etwa der völkische Soziologe und Publizist Max Hildebert Boehm den Begriff „Grenzland“ folgendermaßen:

Er umfasst rein deutsche oder gemischte, abgetretene oder nur bedrohte, besetzte, neutralisierte oder zwangsweise verselbständigte Gebiete. Grenzland ist überall da, wo deutsche Menschen Grenzschicksal leibhaft erfahren, wo sie um den Zusammenhang mit der nationalen Gemeinschaft ringen oder die Nation um ihre Einbeziehung und Festhaltung sinnvollerweise kämpft, kämpfen darf und kämpfen muss.

Max Hildebert Boehm: Die deutschen Grenzlande. 2., verbesserte Auflage. Hobbing, Berlin 1930, S. 16.

Doch nicht alle Deutschen in diesen Gebieten wollten darauf warten, dass die Nation sie zurückholte.  Diese „Grenzlandvertriebenen“ nahmen, nicht selten gezwungenermaßen, ihr Schicksal selbst in die Hand. So migrierten bis 1925 etwa 850.000 Deutsche aus Polen und 150.000 aus Elsass-Lothringen in die Weimarer Republik.

„Zuhause“ unerwünscht

Obwohl sich die deutsche Regierung einerseits verpflichtet sah, diese Menschen aufzunehmen, war sie andererseits eigentlich gar nicht daran interessiert, dass diese Deutschen „in die Heimat“ zurückwanderten. Zum einen hatte dies wirtschafts- und sozialpolitische Gründe. Die „Grenzlandvertriebenen“ stellten gerade zu Anfang schlicht eine Belastung für den jungen Staat dar. Die Einbindung in den Arbeitsmarkt des gebeutelten Landes schien eine zu große Herausforderung zu sein.

Zum anderen widersprachen sie den revisionistischen Interessen vieler, auch in der demokratischen Regierung. Wenn alle Deutschen aus den „Grenzlandgebieten“ zurück ins Reich migrieren würden, fiele das entscheidende Argument weg, warum diese Gebiete wieder an Deutschland angegliedert werden müssten.

Demonstration gegen die Unterzeichnung des Versailler Vertrages vor dem Reichstagsgebäude in Berlin (Mai 1919). Quelle: gemeinfrei

Länger im Lager als gedacht

Die Versorgung der Geflüchteten wurde deshalb viel zu spät und zu lustlos angegangen. Erst im August 1920 richtete die Regierung eine Zentralstelle zur Lenkung der Zuwanderung ein. An ihrer Spitze stand das „Reichskommissariat für Zivilgefangene und Flüchtlinge“, das dem Innenministerium angegliedert war. Dessen zentrale Aufgabe war die Errichtung und Unterhaltung von Durchgangs- und Sammellagern

Die größten dieser sogenannten „Heimkehrlager“ konnten 3.000 bis 4.000 Menschen gleichzeitig unterbringen, allerdings unter mehr als fragwürdigen Zuständen. Eigentlich sollten sich die Menschen dort nur so lange aufhalten, bis sie eine Wohnung und Arbeit gefunden hatten. Dies dauert aber aufgrund der angespannten wirtschaftlichen Lage in den meisten Fällen viel länger als gedacht.

Deswegen verloren die Lager bald ihren Durchgangscharakter. Die kritische Versorgungslage und der Unwille der Regierung, sich aktiv um die Menschen zu kümmern, führte dazu, dass sich das Deutsche Rote Kreuz um die Versorgung der Menschen kümmern musste und auch Schulen für die Kinder in den Lagern einrichtete.

Ein Scheitern, das verhindert hätte werden können

Nicht nur in Europa abgetretene Gebiete forderten viele zurück, auch die ehemaligen Kolonialgebiete in anderen Weltgegenden. Quelle: gemeinfrei

Seit Mitte 1922 wurden diejenigen Stimmen immer lauter, die eine Schließung der Lager verlangten. Zum einen erfüllten sie kaum den ursprünglich gewünschten Zweck, zum anderen wollte man schlicht verhindern, dass noch mehr Geflüchtete kamen. Die Fürsorgemaßnahmen wurden in der Folge weiter eingeschränkt und eine Zuwanderungssperre verhängt. Langsam, aber sicher leerten sich die „Heimkehrlager“, das letzte bestand noch bis Mai 1925.

Das System der „Heimkehrlager“ nach dem Ersten Weltkrieg gilt letztlich als gescheitert. Die Herausforderung der Integration wurde nur halbherzig angegangen, worunter in erster Linie die Geflüchteten selbst litten. Ihr Wunsch auf ein sicheres und gutes Leben wurde der revisionistischen Vorstellung geopfert, dass die Grenzen des Deutschen Reichs doch wieder verschoben werden könnten.

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Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

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