Teil I dieses Beitrags ist hier zu finden.
Bereits in der griechischen Antike übte der Chor eine Stellvertreterfunktion für das Volk aus, das souverän über sich selbst herrschte. Dieses Wesensmerkmal einer Gruppe Singender dürfte nicht nur den Historiker Karl Pfaff fasziniert haben, dessen Kindheit und Jugend durch die Befreiungskriege und die Entwicklung im Vormärz geprägt war, sondern auch den dichtenden Philhellenen Pfaff. Zugleich war es das neue, von dem Pestalozzianer Nägeli geförderte Moment der musikalischen Volksbildung, das den Schwaben in seinem Einsatz für die Sängerbewegung bestärkte.
Ein Fest der Lieder
Dabei fühlte er sich getragen von der Gesellschaftskritik prominenter Schriftsteller wie Jean Paul und Wilhelm Hauff sowie von der Welle der Schillerbegeisterung in Stuttgart in den 1820er Jahren. Wie Hauff, der es in seiner Neujahrsrede für den Stuttgarter Liederkranz 1826 bewusst vermieden hatte, sich mit Friedrich Schillers Gedicht „Die Macht des Gesanges“ auseinanderzusetzen, zitierte auch Pfaff 1827 nicht Schiller, sondern Schwab und Haug.
Indem er sich mit seinen Liedzitaten direkt an die Singenden und ihr Publikum selbst wandte und die Bedeutung eines „Festes der Lieder“ betonte, stellte er sich an den Anfang einer differenzierten Festkultur der Sängerbewegung. Je nachdem, ob das Lied, der Kunstgesang oder die Geselligkeit in den Mittelpunkt gerückt werden sollten, wurden seither Lieder-, Gesang- oder Sängerfeste veranstaltet.
Neben diesem volksbildnerischen Moment der Pfaff‘schen Rede war es aber vor allem auch die bis heute gültige politische Forderung an alle Festgäste, sich ihrer Rolle als freie Bürger ohne soziale und Bildungsschranken bewusst zu sein und ihre Musikkultur in eigener Verantwortung zu gestalten. Joseph Beuys hat dies im 20. Jahrhundert mit seinem Satz „Demokratie muss gesungen werden“ ebenfalls nachdrücklich bekräftigt.
Der deutsche Sängervater Pfaff
Wer sich mit den Massenbewegungen der Turner, Sänger und Schützen im 19. Jahrhundert und ihren nachhaltigen Beiträgen zur Geschichte der Demokratie in Deutschland befasst, weiß um die Notwendigkeit umfassender sozio-kultureller, vor allem aber Biographie- und Netzwerkforschung. Karl Pfaff hatte sich nicht als Sänger oder Dichter den Beinamen „deutscher Sängervater“ (Otto Elben) – als Pendant zum „schweizerischen Sängervater“ Nägeli – erworben, sondern als Protagonist der Sängerideale.
Der im Jahr zuvor zum ersten Präsidenten des Schwäbischen Sängerbundes gewählte Pfaff warb bereits 1850 für die Vision eines allgemeinen deutschen Sängerbundes und konnte schließlich am 21. September 1862, am Gründungstag des Deutschen Sängerbundes (DSB), die Delegierten mit einer Willkommensrede begrüßen. Bis heute ist dieser Bund der weltgrößte Verband von Amateurchören (seit 2005 Deutscher Chorverband DCV), in dessen Leitbild sich das geistige Erbe Karl Pfaffs verankert findet. So heißt es in der Präambel:
„Chöre bereichern das kulturelle Leben und stärken das Bewusstsein unserer kulturellen Identität. Sie schaffen Möglichkeiten für Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlicher Generationen, unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Meinung. Chöre sind wichtige Akteure des Gemeinwesens und integrativer Bestandteil für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft. Als Teil der Zivilgesellschaft tragen sie zur Vermittlung demokratischer Grundwerte sowohl in der Chor- als auch in der Verbandsarbeit bei.“
Das Prinzip der Egalität
Zu allen Zeiten wurde der „massentaugliche“, Sängerinnen und Sänger wie Zuhörerinnen und Zuhörer emotionalisierende Chorgesang nicht nur für friedliche Zwecke instrumentalisiert. Kampfgesänge und Kriegslieder, im Schulunterricht und Gesangvereinen eingeübt und öffentlich vorgetragen und von Massen mitgesungen, die Einrichtung von Militärchören zur musikalischen Truppenbetreuung in den beiden Weltkriegen oder der Einsatz von Chören zur Festigung von Ideologien in totalitären Regimen in der Vergangenheit und der Gegenwart sind eine Mahnung, sich jedem Versuch eines Missbrauchs der „Macht des (Chor-)Gesangs“ gegenüber zur Wehr zu setzen.
Auch Pfaff hatte als Student in Verbindung mit Turnern, Burschenschaftern, Corpsstudenten, Soldaten und Kriegsveteranen das Engagement der Gesangvereine zur deutschen Nationsbildung miterlebt und mitgetragen. Bei der Enthüllung seines Denkmals in Esslingen 1868 wurde er sogar demonstrativ als eine Persönlichkeit gewürdigt, die „die nationale Kraft des deutschen Volksgesangs“ in Zeiten erkannt habe, „in welchen Freiheit und Vaterlandsgefühl fast nur im Liede sich geltend machen konnten“. Doch eine solch verkürzte Sichtweise verstellt den Blick auf jenes demokratische, über jede politisch einengende Haltung erhabene Moment, auf das Pfaff in seiner wegweisenden Plochinger Rede 1827 den Fokus gerichtet hatte: das Egalitätsprinzip für alle Singenden.
Zum Autor
Friedhelm Brusniak studierte in Frankfurt am Main Schulmusik, Geschichte und Musikwissenschaft. Nach Referendariat und 2. Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien sowie Promotion war er als Musikwissenschaftler und Musikpädagoge an den Universitäten Augsburg und Erlangen-Nürnberg tätig, bevor er nach der Habilitation bis zur Pensionierung 2019 als Professor für Musikpädagogik an der Universität Würzburg lehrte. 1989 baute er in Feuchtwangen nach dem Vorbild des ehemaligen Deutschen Sängermuseums in Nürnberg (1925-1945) das „Sängermuseum“ in Feuchtwangen auf und ist seit 2018 wissenschaftlicher Leiter des An-Instituts „Forschungszentrum des Deutschen Chorwesens an der Universität Würzburg“. Darüber hinaus ist er Präsident des Fränkischen Sängerbundes und kooptiertes Mitglied im Präsidium des Deutschen Chorverbandes.
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