Demokratiegeschichten

Die attische Demokratie – die Antike als Modell für die Gegenwart? (Teil 2)

Teil 1 dieses Beitrags ist hier zu finden.

Demokratische Verlosung

Ganz ohne andere Institutionen ging es dann aber auch im demokratischen Athen nicht. Neben der Volksversammlung übernahm der „Rat der 500“ ebenfalls eine wichtige Rolle. Er bereitete die Beschlüsse der Volksversammlung vor, indem er über die Themen der anstehenden Zusammenkünfte beriet und vorläufige Beschlüsse festlegte. Außerdem bestimmte er die Tagesordnung der Volksversammlungen. Die tatsächliche politische Debatte fand aber letztlich doch dort statt.

So etwas wie eine politische Klasse oder gar Berufspolitiker gab es hierbei im antiken Athen nicht (auch wenn der eine oder andere begabte Redner sehr nah an eine solche Rolle herankam). Vielmehr bestimmten die Athener die meisten Ämter per Los. Dieses Verfahren galt ihnen als urdemokratisch und maximal gerecht.

Losmaschine zur Vergabe von Richterämtern. Quelle: Marsyas, CC BY-SA 2.5

Bei Wahlen hingegen gewönnen ja sowieso immer nur die beliebtesten, was nichts mit dem athenischen Verständnis von Demokratie zu tun gehabt hätte. Außerdem wären Abstimmungen bei der großen Anzahl an zu vergebenden Ämtern nicht wirklich eine realistische Option gewesen. So vergab die athenische Demokratie pro Jahr etwa 700 Ämter per Los. Regieren und Regiertwerden gehörten für die Athener untrennbar zusammen.

Der Preis der Mitbestimmung

Auch die athenischen Gerichte wurden per Los besetzt. Damit urteilten ganz normale Laien, keine ausgebildeten Profis, über ihre Mitbürger:innen. Durch den enormen Ämterdurchlauf bekleideten die meisten athenischen Bürger mindestens einmal, häufiger sogar mehrmals im Leben ein Richteramt. Nur ganz wenige Posten in Athen wurden nicht durch Los bestimmt, etwa in der Finanzverwaltung, im Städtebau, bei der Wasserversorgung und der Kriegsführung.

Die attische Demokratie forderte also nicht gerade wenig von ihren Bürgern. Um dafür überhaupt die Zeit zu haben, erhielten die Athener Aufwandsentschädigungen (Diäten). Die Bürger bekamen sie für die Beteiligung an der Volksversammlung und das Ausüben eines öffentlichen Amtes. Nur dies erlaubte es einer, im Verhältnis zu anderen antiken Gemeinwesen, großen Anzahl ihrer Mitglieder, sich überhaupt am politischen Betrieb zu beteiligen.

Schutz vor zu viel Macht

Antike Scherben mit eingeritzten Namen. Quelle: Qwqchris, CC BY-SA 3.0

Den Athenern war es dabei besonders wichtig, dass kein Einzelner zu viel Macht im Staate innehatte. Damit hatten sie selbst schon einige schlechte Erfahrungen gemacht. Dafür, dass es so weit nicht mehr kam, sollte der Ostrakismos sorgen, das Scherbengericht. Eignete sich ein etwas zu ambitionierter Athener (vermeintlich) zu viel Macht an oder stand unter dem Verdacht, die Massen immer wieder etwas zu geschickt zu manipulieren, konnten die Athener mit diesem Instrument einmal im Jahr einen Bürger aus den eigenen Reihen aus der Stadt verbannen. Stimmte eine Mehrheit in Form von auf Scherben geritzten Namen für eine Person, musste diese Athen für zehn Jahre verlassen – und war damit in den Augen der Athener keine Gefahr mehr für die Demokratie.

Ab Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. wurde darüber hinaus die Macht der Volksversammlung durch weitere Kontrollinstanzen beschränkt. Auch dies sollte die Gefahr von Demagogen, die das Volk leicht verführen könnten, mindern und dem Staat als Ganzes Stabilität geben. Denn bereits während des Peloponnesischen Krieges gegen Sparta geriet die Demokratie kurzzeitig in eine tiefe Krise und wurde sogar durch eine Oligarchie ersetzt. Das demokratische Athen schaffte es aber, sich noch einmal zu berappeln, und bestand noch einige Jahrzehnte länger. Bis schließlich die Nachfolger Alexanders des Großen die Polis Athen ins makedonische Reich eingliederten.

In welcher Demokratie wollen wir leben?

Was uns die attische Demokratie im Jahr 2024 noch geben kann, ist wohl kaum ein Werkzeugkoffer mit Institutionen und Entscheidungsfindungsprozessen, die sich eins zu eins auf die moderne Demokratie übertragen lassen. Dinge, wie jeden Beschluss im Staat von allen direktdemokratisch entscheiden zu lassen und nahezu alle öffentlichen Ämter per Los zu vergeben, die Mehrheit der Bevölkerung von politischer Teilhabe auszuschließen und unliebsame Bürger:innen ins Exil zu schicken, wenn sich nur genug Menschen dafür aussprechen, sind in einem modernen demokratischen Staat schlicht nicht umsetzbar – und wohl auch von den wenigsten in dieser radikalen Form gewünscht.

Sie kann uns aber den Mut geben, Demokratie weiterzudenken. Sie kann uns motivieren, unser Verständnis von Demokratie zu erkennen und zu hinterfragen, ob diese Auffassung noch zeitgemäß ist. Und falls ja, setzen wir die Demokratie auch wirklich so, wie wir uns das vorstellen, praktisch in die Tat um? So kann es nicht darum gehen, ob die attische Demokratie die schlechtere oder die bessere Ausprägung der Volksherrschaft war. Für einen solchen Vergleich sind das 5. Jahrhundert v. Chr. und das 21. Jahrhundert n. Chr. schlicht zwei zu unterschiedliche Welten. Aber als Inspiration, um Ideen und Mechanismen zu finden, die für unsere Zeit passen (könnten), und diese dann zu testen, kann die Demokratie im antiken Athen allemal herhalten.

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Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

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