Für die einen ist sie das Idealbeispiel einer Demokratie, eines Volkes, das sich selbst regiert. Damit sei sie ein leuchtendes Vorbild für heute, in einer Zeit der um sich greifenden Politikverdrossenheit. Für die anderen ist sie ein unrealistischer Wunschtraum, der nicht einmal während ihres tatsächlichen Bestehens richtig funktioniert hat. Entsprechend könne sie noch viel weniger heute umgesetzt werden. Es geht um die attische Demokratie im antiken Stadtstaat Athen. Was uns die „Wiege der Demokratie“ heute noch lehren kann, ist aber möglicherweise etwas anderes als eine Wahl zwischen diesen zwei Gegenpolen.
Gleiches Recht für alle?
Zunächst ist es wichtig festzuhalten, dass es die attische Demokratie so nicht gab. Die Entstehung und Entwicklung dieses politischen Systems in der Polis Athen, also der Stadt selbst und ihrem Umland auf der Halbinsel Attika, war ein mühsamer Prozess. Er zog sich über zwei Jahrhunderte hin und bestand aus diversen Reformen und Umbrüchen. Niemand hatte dabei den expliziten Plan, die Herrschaftsform Demokratie zu entwickeln. Vielmehr erhielten über die Zeit hinweg immer mehr gesellschaftliche Schichten Möglichkeiten der politischen Teilhabe als Reaktion auf verschiedene politische, wirtschaftliche und kulturelle Umstände.
Ihren Höhepunkt erlebte die attische Demokratie im 5. Jahrhundert v. Chr., für den Stadtstaat Athen gleichzeitig eine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit. Die attische Demokratie beruhte dabei im Kern auf zwei Grundprinzipien: Isonomia, die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, und Isegoria, das gleiche Rederecht in der Volksversammlung sowie gleicher Zugang zu öffentlichen Ämtern für alle. Dass diese Prinzipien, so schön sie auch klingen mögen, in ihrer Zeit verstanden werden müssen, ist klar.
Denn zur Wahrheit gehört, dass Frauen, Sklaven und Metöken (Fremde) nicht in den Genuss dieser Prinzipien kamen. Sie galten schlicht nicht als Teil des sich selbst regierenden Volkes. Entsprechend schloss die attische Demokratie sie konsequent von jeglicher politischen Partizipation aus. Letztlich waren politische Bürger nur athenische Männer, deren beide Eltern ebenfalls aus Athen stammten. Dies bedeutet letztlich, im 5. Jahrhundert v. Chr. gab es etwa 30.000 bis 35.000 Vollbürger. In Athen lebten zu dieser Zeit aber geschätzt zwischen 200.000 und 300.000 Menschen. Damit war die überwältigende Mehrheit der in Athen Lebenden nicht an politischen Prozessen beteiligt.
Mitbestimmung gegen Leistung
Das Recht zur Mitbestimmung beruhte in Athen (genauso wie in vielen anderen antiken Gemeinwesen) nicht unerheblich darauf, wie viel man für das Gemeinwesen leistete. So argumentierten letztlich auch die Adeligen, die Athen vor der demokratischen Ära beherrschten. Die zentrale Rolle des Adelsrats, der die Geschicke des Stadtstaats vor seiner Entmachtung maßgeblich bestimmte, sei nur gerechtfertigt. Denn es seien ja eben die Adeligen, die viel mehr finanzielle Abgaben für die Gemeinschaft entrichteten als der Rest der Bevölkerung.
Nicht zuletzt stellte sich Krieg als Treiber der Demokratie heraus. Denn je mächtiger die Seemacht Athen wurde und je mehr Ruderer für die Kriegsmarine benötigt wurden, desto lauter wurden die Forderungen der unteren Schichten nach Mitbestimmung. Als Gegenleistung für ihren Kriegsdienst auf den Schiffen forderten auch sie das Recht ein, am Gemeinwesen mitzuwirken. Nicht zuletzt der erfolgreiche Verteidigungskampf gegen das Persische Reich Anfang des 5. Jahrhunderts stärkte das Selbstvertrauen der athenischen Bürger und ihren Wunsch, gemeinschaftlich Entscheidungen zu treffen.
Die mächtige Versammlung des Volkes
Im Kern basiert das politische System des antiken Athens also durchaus auf dem Gedanken der Volkssouveränität (auch wenn unser Verständnis, wer Teil des Volkes ist, davon abweicht). Es ist nicht ein König oder eine Gruppe von Adeligen, sondern die Bürger, die sich selbst beherrschen sollen. Dies erfolgte direktdemokratisch, weitestgehend ohne Vertreter oder Zwischenstufen wie in der parlamentarischen Demokratie. Auch eine moderne Gewaltenteilung gab es nicht. Die Volksversammlung stand für viele Jahrzehnte unumstritten im Zentrum des politischen Systems.
Die Volksversammlung traf sich auf der Pnyx, einem Hügel direkt neben der berühmten Akropolis. Das athenische Volk kam hier vermutlich 40-mal im Jahr zusammen. Heute geht man von ca. 6.000 teilnehmenden Bürger bei jeder Sitzung aus. Sie kontrollierten die Träger öffentlicher Ämter und debattierten über die Versorgung Athens mit Lebensmitteln sowie die Sicherheit des Stadtstaats. Außerdem konnte es um politische Anklagen, staatliche Enteignungen und Erbstreitigkeiten gehen, genauso wie um Petitionen, religiöse Kultfragen sowie das Empfangen und Entsenden von Gesandtschaften. Die Frage ist also wohl eher, über was die Volksversammlung nicht beriet. Die Abstimmungen auf der Pnyx erfolgte per Handheben.
Teil 2 dieses Beitrags ist ab 15. November hier zu finden.
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