Es ist der 13. August 1973, früh um 6:00 Uhr morgens. Normalerweise würden die größtenteils ausländischen Arbeiterinnen des Pierburg Vergaserwerks in Neuss bereits am Fließband stehen. Schuften in Akkordarbeit für 4,70 DM die Stunde, die Luft mit gesundheitsschädlichen Chemikalien geschwängert, Pinkelpausen unerwünscht. Doch an diesem Morgen stehen sie versammelt außerhalb ihrer Werkstätte. Die Frauen haben genug – so begann der wilde Streik von Pierburg.
Das Streikjahr 1973
Das Jahr 1973 sollte in die Geschichte der BRD eingehen als das große Streikjahr. Besonders sogenannte Gastarbeiter*innen begannen, gegen die häufig schlechten Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne vorzugehen. Denn gerade sie waren von der sich ankündigenden wirtschaftlichen Rezession und der Inflation, die das Jahr 1973 mit sich brachte, besonders betroffen.
Viele der „Gastarbeiter*innen“, die zumeist als ungelernte Arbeitskräfte in schlecht bezahlten Jobs arbeiteten, schickten zudem den Löwenanteil ihres Verdiensts nach Hause. Stiegen jedoch die Verbraucherpreise, blieb weniger, um ihre eigene Existenz in der BRD zu tragen.
Zusätzlich dazu wehte „Gastarbeiter*innen“ aus der Gesellschaft ein scharfer Wind entgegen. Auch vonseiten ihrer deutschen Kollegen aus ihren Betrieben: Deutsche fürchteten oft, durch günstigere Arbeiter aus dem Ausland vertrieben zu werden. Diese Angst wurde angefacht durch die Medien, welche ein Bild von der*dem lohndrückenden, anspruchslosen „Gastarbeiter*in“ zeichneten. Der in der breiten Menge der Gesellschaft vertretene Rassismus gegen ausländische Arbeitskräfte spielte außerdem eine Rolle dabei, die Arbeiterschaft von Betrieben in deutsche, bessergestellte und besser bezahlte Facharbeiter*innen und ungelernte, zu oft ausgebeutete ausländische „Gastarbeiter*innen“ zu spalten. Das war besonders unglücklich, da Betriebsräte, Vertrauenspersonen und die Gewerkschaften vielerorts hauptsächlich mit Deutschen besetzt waren. Dort fehlten für die „Gastarbeiter*innen“ Ansprechpersonen, die ihre Interessen glaubwürdig vertraten.
Obwohl sie also die gleichen Krisen zu bewältigen und ähnliche Interessen (Lohnerhöhung, besseren Arbeitsschutz und einen allgemein wertschätzenderen Umgang) teilten, konnten „Gastarbeiter*innen“ oft keine Unterstützung von ihren deutschen Kolleg*innen erwarten.
Bis 1973 hatte die „Gastarbeiter*Innen“-Community viele Ungerechtigkeiten und schlechte Behandlung toleriert. Doch fast zwanzig Jahre nach Abschluss des ersten Anwerbeabkommens (1955 mit Italien) realisierten viele, dass ihre langfristige Zukunft in Deutschland lag. Akkordarbeit am Fließband und niedrige Löhne wurden nicht zur temporären Herausforderung, sondern zu einer langfristigen Perspektive.
All dies war der Zunder für die sogenannten „Wilden Streiks“ des Jahres 1973. Wild deswegen, weil die Gewerkschaften nicht in die Organisation dieser mit eingebunden waren. Die Belegschaft organisierte und versammelte sich selbstständig und auf eigene Gefahr.
Schuften in der „Leichtlohngruppe 2“
Auch bei dem Vergaserhersteller Pierburg in Neuss spitzte sich die Lage für die Arbeiter*innenschaft zu. Zwar hatte man es in den vorherigen Jahren geschafft, den Betriebsrat mit ausländischen Arbeiter*innen zu besetzen und neue eingestellte Arbeiter*innen durch Vertrauenspersonen in ihren Sprachen begrüßen zu können, trotzdem stiegen die Anforderungen bei gleichbleibender Bezahlung. Besonders betroffen davon waren die ausländischen Frauen – der größte Teil der Belegschaft. Von den insgesamt 3000 Angestellten waren 1700 Migrantinnen. Sie arbeiteten fast ausnahmslos in der Leichtlohngruppe 2. In dieser erhielten sie 4,70 DM die Stunde für angeblich „leichte körperliche Arbeit“. Gleichzeitig stieg die Fließbandgeschwindigkeit zwischen 1970 bis 1973 um 62,5% von 800 Vergasern pro Fließbandeinheit pro Schicht auf 1300.
Wer nicht lieferte, wurde bestraft – durch Verlegungen zu besonders unbeliebten und unhygienischen Arbeitsplätzen, Verwarnungen und angedrohten Entlassungen.
Bereits im Juni 1973 versammelten sich 300 Arbeiter*innen zu einem ersten Streik. Dieser scheiterte jedoch: Die 13 Forderungen der Streikenden waren einfach zu viele und zu komplex, um die gesamte Belegschaft hinter sich zu versammeln.
Ein kleiner Funke – großes Potenzial
Anders war es am 13 August. Zwischen 200 und 300 Angestellte von Pierburg, hauptsächlich Gastarbeiterinnen, versammelten vor den Toren des Vergaserwerks. Die Frauen forderten nur zwei Dinge: Eine Lohnerhöhung um 1,- Mark und die Abschaffung der Lohngruppe 2.
Darauf konnte sich ein großer Teil der Arbeiter*innenschaft einigen. Darin lag das Potenzial dieses Streiks, den auch die Firmenleitung bald erkannte. Laut Dieter Braeg, einem langjährigen Mitglied des Betriebsrates, der später die Geschichte des Streiks als Buch (Wilder Streik. Das ist Revolution) veröffentlichte, tätigte man bereits um 7:00 Uhr morgens einen Notruf, der kurz darauf die Polizei auf den Plan rief. Es kam zu einem Handgemenge, woraufhin sich die Polizisten erst zurückzogen, um dann später mit Verstärkung zurückzukommen. Darauf folgten drei Verhaftungen, Gewalttätigkeiten und bis zu zehn Stunden andauernde Verhöre. In diesen versuchte man den Verhafteten zu entlocken, dass sie wegen Politik, nicht aufgrund der untragbaren Arbeitsbedingungen streikten.
Trotz dieser Einschüchterungsversuche – oder vielleicht gerade deswegen – versammelten sich nach der Frühstückspause 600 Arbeiterinnen zum Streik. Innerhalb eines Vormittages hatte sich die Zahl der Streikenden verdoppelt. Zu viele Streikende, um die Produktion aufrechtzuerhalten. Nun standen die Fließbänder von Pierburg still.
Einschüchterung durch Schläge
Auch am zweiten Tag standen 350 Arbeiter*innen der Frühschicht auf dem Firmengelände. Auf ihr Streiken reagierte die Polizei mit Schlägen: Die Gewalt eskaliert.
Der Polizeichef von Neuss äußert sich dazu in dem Dokumentarfilm „Ihr Kampf ist unser Kampf“ (Min. 11) folgendermaßen:
„Ich habe darauf hingewiesen, dass wir unsere Anweisungen aus dem Ministerium hätten, wie wir uns in Streikfällen zu verhalten hätten.“
Nicht aufzuhalten im Streik
Am 15ten bewegte sich – Nichts. Die Geschäftsleitung zeigte kein Interesse daran, auf die Forderungen der Streikenden einzugehen. Ihr Plan war, im Herbst 300 neue Gastarbeiterinnen einzustellen. Diese würden dann die länger Beschäftigten ersetzen.
Man müsste die Leichtlohngruppe 2 nur bis Ende des Sommers erhalten, indem man den Streik konsequent ignorierte. Mit voranschreitender Zeit würde Frustration die Gruppe der Streikenden erfassen, spalten und den Streik im Kern ersticken.
(Die (wirtschaftliche) Machtposition der Geschäftsleitung fußte darauf, dass „Gastarbeiterinnen“, also Menschen, die sowohl als Frau als auch als Migrantinnen diskriminiert wurden, sich weiterhin ausbeuten ließen. Ihre niedrige Löhne bedeuteten Einsparungen und ermöglichten somit höhere Profitmargen. Das erklärt auch, warum bereits an Tag 2 grobe, körperliche Gewalt gegen die Frauen eingesetzt wurde: Hätten sie Erfolg, wäre dieser Status Quo gefährdet.)
In einem Akt nicht zu leugnender Symbolik schloss man die Tore zum Firmengelände und spannte Ketten zwischen den Toren, um die Menge zu teilen. Doch die „Gastarbeiterinnen“ durchbrachen die Barriere.
„Helft uns!“
Inzwischen setzte sich auch die Facharbeiter*innenschaft in Bewegung, die überwiegend aus deutschen Männern bestand. Sie selbst hatten in der Vergangenheit versucht, zu streiken. Ohne die große Menge der Frauen waren sie damals gescheitert. Vielleicht, so die Überlegung der Facharbeiter*innen, würden sich die Frauen der Leichtlohngruppe 2 in Zukunft ebenfalls für ihre Kolleg*innen einsetzen.
Zusätzlich warben auch die streikenden Frauen um die Hilfe der Facharbeiter*innenschaft. Am 16ten August verteilten sie rote Rosen an diese. Einige Frauen brachten einen Strauß zu den Facharbeiter*innen in den Werkzeugbau. Daran befestigt eine Karte mit den Worten:
Viele Grüße von den streikenden Frauen an den Werkzeugbau. Helft uns!
Die Solidarität der Arbeitenden untereinander siegte über Einschüchterungs- und Spaltungsversuche.
Als die Facharbeiter*innenschaft sich dem Streik anschloss, spielten sich auf dem Werksgelände Freudenszenen ab. Tanzen, Tränen, Jubelschreie, denn man war sich gewiss: Nun endlich musste die Geschäftsleitung zuhören. Und tatsächlich: Um 10:00 Uhr wurden die Verhandlungen aufgenommen.
Am Verhandlungstisch
Um 6:30 Uhr am 17ten August, 96,5 Stunden nach Beginn des Streiks stand das erste Angebot: 12 Pfennig mehr pro Stunde ab sofort, ab Jahresbeginn 1974 20 Pfennig Lohnerhöhung die Stunde.
Das lag weit unter den ursprünglichen Forderungen von 1,- Mark Lohnerhöhung.
Für die Streikenden war der Verhandlungszeitpunkt günstig: Die Zuversicht und Einigkeit war auf ihrem Zenit, die erfolgreiche Zusammenarbeit der Gastarbeiter- und Facharbeiter*innenschaft inspirierte Streiks an anderer Stelle und die Automobilindustrie wartete vergeblich auf Vergaser aus Neuss, ohne die keine Autos fertiggestellt werden konnten.
Um 16:00 Uhr desselben Tages kam man zu einer Einigung: Der lang ersehnte Wegfall der Lohngruppe 2 und 75 statt 53 Pfennig die Stunde.
Für die meisten Arbeiter*innen bedeutete dies, dass sie ihre Arbeiter wiederaufnahmen.
Für die meisten?
150 Arbeiterinnen streikten auch weiterhin. Zwar versuchte man, dies hinter lauter Musik und geschlossenen Toren zu verbergen, doch der Funke war längst übergesprungen: Die Facharbeiter*innenschaft des Werkzeugbaus setzten sich erneut für die Interessen ihrer Kolleg*innen ein.
Mit Erfolg: Keine*r der Arbeiter*innen wurden entlassen und vier Streiktage wurden bezahlt.
Ein Rezept für den Erfolg
Die Geschichte der „Gastarbeiter*innen“ in Deutschland zeigt immer wieder, wie wenig Wertschätzung und grundlegender Respekt den Männern und Frauen entgegengebracht wurde, auf deren Arbeit der wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands maßgeblich beruht. 1973 markiert den Wendepunkt, an welchem „Gastarbeiter*innen“ vielerorts begannen, sich zu wehren.
Dass gerade der Pierburg-Streik so ein leuchtendes Beispiel hierfür ist, liegt vor allem an der Solidarität der verschiedenen Angestelltengruppen untereinander. Allzu einfach wäre es für die Facharbeiter*innen gewesen, einfach von ihren Werkstätten aus zuzusehen, wie ihre Kolleg*innen in der Leichtlohngruppe 2 weiter ausgenutzt und im Herbst 1973 schließlich ersetzt werden würden.
Außergewöhnlich daran ist, dass eine Gruppe von überwiegend deutschen Männern sich hier mit migrantischen Frauen solidarisierte. Besonders mit Blick auf rassistische und sexistische Vorurteile, die viele der Facharbeiter*innen womöglich verinnerlicht hatten, ist der dafür nötige Perspektivwechsel beachtlich.
Sicherlich wird auch die Hoffnung der Facharbeiter*innen, eigene Interessen in Zukunft besser umzusetzen, hierbei eine große Rolle gespielt haben.
Zusätzlich zeichnete sich Pierburg dadurch aus, dass Vertreter*innen der „Gastarbeiter*innencommunity“ in Verantwortungspositionen saßen. Zum Beispiel im Betriebsrat: Wo andere, hauptsächlich oder sogar ausschließlich deutsch besetzte Betriebsräte fürchteten, angesichts unangekündigter Aktionen ihre Kontrolle zu verlieren, funktionierte die Zusammenarbeit mit den Arbeiter*innen bei Pierburg bedeutend besser.
Der Pierburg-Streik von 1973 erscheint wie ein Rezept für erfolgreiche Streiks: Man nehme den Mut der Arbeiter*innen, sich Gewalt und Bestrafungen entgegenzustellen, dazu die Unterstützung eines Beirates und einen großes Schuss Solidarität. Solidarität zwischen den vielfach gegeneinander aufgebrachten ausländischen und deutschen Arbeiter*innen, die erst im Zusammenschluss ihre Ziele erreichen konnten.
Quellen:
Wilder Streik bei Pierburg: Freudentänze mit Facharbeitern | marx21
derfunke – Arbeiterinnen im wilden Streik 1973 standen bei Pierburg alle Bänder still!
Der Pierburg-Streik – Solidarität unter Arbeiter*innen
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