Heute vor 50 Jahren, am 11. September 1973, gegen 6:20 Uhr klingelt das Telefon von Chiles Präsident Salvador Allende. Er erfährt, dass die Streitkräfte seines Landes gegen ihn putschen. Kurz darauf begeht der linke Politiker Suizid. Eine Militärjunta unter General Augusto Pinochet übernimmt die Macht. Die Obristen internieren und töten Tausende. Millionen Chileninnen und Chilenen können ins Ausland fliehen.
Meine Kindheit in den 1970er und 80er Jahren in der DDR war geprägt von Berichten über Solidaritätsaktionen für Chile, von Zeitungsberichten über das Exil-Leben chilenischer Kommunistinnen in der DDR, von chilenischen Künstlern, die in der DDR auftraten und nicht zuletzt von dem Lied eines bekannten DDR-Liedermachers, in dem es hieß: „Mag nicht an Folterschreie denken in Chile hinter Polstertüren.“ Egal ob Kirchen-Mitglied oder SED-Mitglied, das Pinochet-Regime wurde in der DDR verurteil. Darin war man sich einig. Chile war fern und kaum einer wagte daran zu glauben, jemals dieses Land kennenzulernen. Und gleichzeitig war Chile in meiner Kindheit immer präsent. Jedoch ließ sich mein Wissen über Chile in zwei Worten zusammenfassen: Pinochet und Folterkeller.
Erst als ich im Januar 2023 Chile selbst besuchte, bekam ich eine vage Ahnung von dem, was die Menschen in diesem Land zwischen 1973 und 1990 unter dem Regime Pinochets wirklich erlebt hatten.
Der Militärputsch in Chile 1973
Die tiefgreifenden sozialen und ökonomischen Reformen des linken Präsidenten Salvador Allendes, der 1970 in sein Amt gewählt wurde, führten in Chile in den 1970er Jahren zu einer Polarisierung. Allendes Regierungszeit war zunehmend geprägt durch politische Konfrontationen u.a. mit den alten, konservativen Kräften Childes, die in einer Eskalation endete. Im Morgengrauen des 11. Septembers 1973 begann der Putsch der Streitkräfte Chiles. In dessen Verlauf wurde die demokratisch gewählte Regierung Chiles gestürzt. Das in den Präsidentenpalast eindringende Militär fand Allende mit einer Schusswunde im Kopf tot auf. Maßgeblich am Putsch beteiligt war der chilenische General Augusto Pinochet. Vom 11. September 1973 an regierte er Chile bis zum 11. März 1990 diktatorisch, zunächst als Vorsitzender einer Militärjunta, später als Präsident. Er wurde nie demokratisch gewählt.
Aussetzung verfassungmäßiger Rechte
Unmittelbar nach dem Putsch gab es die meisten Opfer. Allein am 11. September wurden 2.131 Menschen aus politischen Gründen verhaftet, bis Ende des Jahres 1973 waren es 13.364. Die Opfer waren vor allem Mitglieder und Sympathisanten von Regierung, Linksparteien und Gewerkschaften.
Während Pinochets Herrschaft wurden in Chile die verfassungsmäßigen Rechte ausgesetzt. Der Kongress wurde aufgelöst und im ganzen Land der Ausnahmezustand verhängt. Folter und Verschwindenlassen wurden neben weiteren Praktiken zur Staatspolitik. Nach offiziellen Angaben waren 40.175 Menschen von den Gräueltaten betroffen, darunter Folteropfer, Hingerichtete, Inhaftierte und Opfer des Verschwindenlassens. Bis zu 4.000 Menschen wurden zwischen 1973 und 1990 ermordet oder verschwanden. Die menschlichen Überreste von schätzungsweise 1.469 Inhaftierten und Hingerichteten sind immer noch nicht gefunden worden.
Afnahme im Ausland
Etwa 20.000 Menschen flohen noch 1973 ins Ausland. Insgesamt wanderten während der Militärdiktatur eine Million Chilenen aus.
Hilfe erfuhren Chilenische Flüchtlinge in beiden deutschen Staaten. Am 7. Dezember traf das erste Flugzeug in Frankfurt Main ein. Die Bundesrepublik nahm insgesamt über 4.000 Flüchtlinge auf.
DDR-Staatschef Erich Honecker hatte unmittelbar nach dem Militär-Putsch durch General Pinochet in Chile am 11. September 1973 erklärt, dass die DDR verfolgten Chilenen Asyl bietet. In den folgenden Monaten und Jahren kamen rund 2.000 – 2.500 chilenische Flüchtlinge in die DDR; die Zahlen variieren.
Eine der Chileninnen, die in der DDR Zuflucht fand, war die spätere chilenische Präsidentin Michelle Bachelet. Bachelet flüchtete 1975 vor der Pinochet-Diktatur aus ihrem Heimatland über Australien in die DDR. Am Herder-Institut der Universität Leipzig lernte sie Deutsch und studierte an der Humboldt-Universität Berlin Medizin. 1979 kehrte sie zurück nach Chile. Michelle Bachelet war von 2006 bis 2010 sowie von 2014 bis 2018 Präsidentin Chiles.
Museum der Erinnerung und Menschenrechte – Museo de la Memoria y los Derechos Humanos
Januar 2023. Knapp 50 Jahre nach dem Militärputsch in Chile besuche ich das Museo de la Memoria ylos Derechos Humanos in Santiago de Chile. Inzwischen ist die Zeit der Pinochet-Dikatur ein Teil der chilenischen Erinnerungskultur geworden; um die gleichzeitig noch immer gerungen wird. Nicht alle politischen Kräfte unterstützen diese Erinnerungen und Opfer der Diktatur warten noch auf Entschädigung.
Seit Dezember 2009 steht an zentraler Stelle in Chiles Hauptstadt Santiago ein Neubau von rund 9.000 Quadratmetern auf vier Stockwerken. Das Museo de Memoria y los Derechos Humanos selbst ist keine Gedenkstätte an einem spezifischen Ort des Verbrechens. Es behandelt die Menschenrechtsverletzungen in Chile, die unter dem Militärregime zwischen 1973 und 1989 begangen wurden und erinnert an eine schlimme Epoche in der Geschichte des Landes. Das Museum gedenkt der Ermordeten und Opfer des Militärregimes. Aber dieses staatlich finanzierte Museum ist mehr als ein Museum der Erinnerung. Schon im Namen vertritt es einen politischen Anspruch, der auch in die Gegenwart reicht. Mit seiner modernen Ausstellung und Architektur gehört es zu den führenden Gedenkmuseen der Welt.
Über 20 Jahre hat es gedauert, bis der chilenische Staat einen zentralen Erinnerungsort für die Opfer der Militärdiktatur geschaffen hat. Solange der Diktator Augusto Pinochet noch lebte, war daran kaum zu denken. Doch nach seinem Tod im Dezember 2006 kündigte die damalige sozialistische Präsidentin Chiles, Michelle Bachelet, an, ein Museum bauen zu lassen. Eine Regierungskommission erarbeitete ein Konzept. Für das Gebäude wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben. Im Januar 2010 eröffnete Bachelet den avantgardistischen Bau. Entworfen hatte ihn ein brasilianisches Architekturbüro und setzte die Pläne in Zusammenarbeit mit dem chilenischen Architekten Roberto Ibieta um.
Das Museum ist zwar vom Staat geförderte und zu hundert Prozent finanzierte, jedoch keine staatliche Einrichtung. Träger ist ein Zusammenschluss verschiedener ziviler Organisationen aus dem Menschenrechtsbereich. Ein plural zusammengesetztes Direktorium trifft alle museografischen Entscheidungen. Konsens in diesem Trägerkreis war von Anfang an, dass das Museum für keine spezifische Opfergruppe oder politische Richtung Partei ergreifen würde.
Das Museumsgebäude
Der weite Vorplatz des Museums, der einem Becken ähnelt, die Plaza de la Memoria, ist durchgehend mit grauen Betonplatten ausgelegt und für Open-Air-Veranstaltungen konzipiert. Im Zentrum des Platzes befindet sich das unterirdische Mahnmal La Geometría de la Conciencia des chilenischen Künstlers Alfredo Jaar. Daneben, mitten in dem großen Betonbecken, die oben beschriebene „Gangway ins Leben“.
Das Museumsgebäude besteht aus einem länglichen Riegel mit grünlich-transparenten Platten verkleidet. Dieser Riegel ruht auf einem geteilten Unterbau und scheint zu schweben. Um zum Museumseingang zu gelangen, gehen die Besucherinnen und Besucher tief unter dem Gebäude hindurch. Die vom grauen Beton gekennzeichnete, sterile, ungastliche Atmosphäre erzeugt in mir eine Ahnung davon, was die Opfer des Pinochet-Regimes bei der Ankunft in einem der vielen Gefängnisse empfunden haben könnten. Gleichzeitig schützt der Tunnel unter dem schwebenden Museumsgebäude vor der sengenden Sonne. In einem der Unterbauseiten befindet sich der Eingang zum Museum.
Zentrum des Museums ist ein Raum, der sich über alle drei Stockwerke erstreck. Über eine gesamte Wand des Raumes zieht sich eine riesige Wolke aus Fotos von Menschen, die unter der Pinochet-Diktatur gefolterten, verschwundenen und ermordeten wurden. Die Ausstellung erstreckt sich über alle drei Stockwerke
Die Ausstellung
Aus dem Foyer im Untergeschoss steige ich eine lange Treppe in die Ausstellung empor.
An prominentester Stelle im Museum sind jene Fotografien der Ermordeten und Verschwundenen, die an der gesamten Ostwand des Museums verteilt hängen. Von allen Etagen fallen sie immer wieder ins Auge. Im zweiten Stock, gegenüber der Mitte der Wand, ist ein Ruhepunkt eingerichtet worden, umgeben von elektrischen Kerzen. Hier können Besucherinnen und Besucher ihrer toten Angehörigen gedenken. Dort befindet sich auch eine digitale Datenbank, die Information über die einzelnen Personen enthält.
An den Gängen auf der gegenüberliegenden Seite der Fotowand wird die Geschichte des Putsches vom 11. September 1973 und der durch ihn installierten Diktatur und Repression erzählt. Große Abteilungen widmen sich einzelnen Opfergruppen, z.B. den Kindern. Ein Fokus liegt auch auf der langen Geschichte des Widerstands und des Kampfes um Wahrheit und Gerechtigkeit. Dieser Kampf führte schließlich zum Zusammenbruch des Pinochet-Regims durch das Referendum von 1988. Auch die internationale Dimension dieses Widerstands ist ausführlich dargestellt.
Die Ausstellung beginnt mit dem Jahr 1973. In einer Endlosschleife flimmern über einen Bildschirm die Aufnahmen, die einst um die Welt gingen. Sie zeigen den Angriff am 11. September 1973 auf den Moneda-Palast in Stantiago de Chile, den Sitz des gewählten Präsidenten Salvador Allende.
Kinder im Pinochet-Regime
Gewalt in den verschiedensten Formen fand auch vor den Augen der Kinder statt. Bewaffnete Menschen drangen in private Häuser ein. Kinder Besuchten Verwandte, die für längere Zeit im Gefängnis saßen. Eltern verschwanden und wurden hingerichtet. Andere Kinder erlebten Exil und Entwurzelung von der Heimat. Die Wahrheitskommussion, die nach 1990 in Chile ihr Arbeit aufnahm, um die Verbrechen des Pinochet-Regimes aufzuklären, identifizierte 153 Minderjährige, die aus politischen Gründen hingerichtet oder bei Protesten ermordet wurden.
Widerstand
Schon zu Beginn der Dikatur organisierten sich die ersten Gruppierungen von Angehörigen der Opfer, die hauptsächlich aus Frauen bestanden. Zentrales Ziel der Gruppen war es, ihre vermissten Amgehörigen zu suchen und Wahrheit und Gerechtigkeit zu fordern. Allmählich vermehrten sich im ganzen Land die Gruppen und Organisationen und es entstand eine heterogene Frauenbewegung.
Die Wende ins Helle. Das Ende der Dikatur
Durch die gesamte Ausstellung zieht sich ein farbliches Konzept. Während am Beginn der Ausstellung schwarz und grau dominieren und die Themen Machtergreifung Pinochtes, Verfolgung, Haft und Folter beleuchtet werden, hellen sich die Farben im Laufe der Ausstellung auf.
Am Ende gibt es in der Ausstellung etwas, das die Herzen stärker anrührt als all das Dunkle. Es ist die Wende ins Helle, das Ende der Diktatur, der friedliche Übergang zur Demokratie. Wiederum in Endlosschleife läuft auf einem Retro-Fernseher am Ende der Ausstellung der legendäre Werbefilm, mit dem die Opposition jenes Referendum über eine weitere Amtszeit gewann, das Pinochet auf Druck des Auslands selbst angesetzt hatte.
Erschöpft von der Vielzahl der Eindrücke und persönlichen Geschichten, mit denen die Ausstellung arbeitet, sitze ich nach über drei Stunden in einer gepolsterten Sitzgruppen und sehe Interviews mit Chileninnen und Chilenen über ihr Leben nach der Dikatur. Bewußt wird am Ende der Ausstellung ein Ort des Wohlfühlens und der Entspannung geschaffen. Ich bin beeindruckt von der Sensibilität, Vielschichtigkeit und Multiperspektivität, mit der dieses Museum einen bedrückenden Teil der Chilenischen Geschichte erzählt. Hier wird nicht nur erinnert, sondern auch anhand vieler persönlicher Beispiele ermutigt, sich einzumischen und Demokartie zu erkämpfen.
Dokumentationszentrum – Centro de documentación
Das Museo de Memoria y los Derechos Humanos beherbergt im Sockelgeschoss ein großes Dokumentationszentrum über die Verbrechen der Diktatur und deren Opfer. In gepanzerten Archivschränken lagern Tausende von Dokumenten der Menschenrechtsorganisationen aus der Zeit der Diktatur und danach. Zur Sammlung gehören ferner viele persönliche Erinnerungsstücke von ehemaligen Gefangenen oder Angehörigen von Ermordeten und Verschwundenen.
Die Brücke ins Chile von heute
Mit der Wahl des Namens Museum der Erinnerung und Menschenrechte entschied sich der Trägerkreis bewußt, nicht nur die Erinnerungen an die Vergangenheit wachzuahlten. Mit dem Begriff der Menschenrechte soll auch eine Brücke in die Gegenwart geschlagen werden. Der Weg über die Plaza de la Meomoria zum Museumseingang führt entlang einer langen Wand, in der alle 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte angeschrieben sind. Noch ehe die Besucher das Museum selbst betreten, werden also sie mit dem universellen Anspruch der Menschenrechte konfrontiert. Diese Menschenrechte reichen lange vor die Zeit Pinochets zurück, aber eben auch bis in die Gegenwart hinein.
Bis heute kommt es darüber zu Spannungen zwischen dem Trägerkreis, der aufgrund seiner Pluariltät Zurückhaltung fordert, und den Erwartungen der Poltik einerseites. Ansererseits stehen aktuelle menschenrechtliche Forderungen im Raum.
Wer mehr darüber erfahren will, wie die Pinochet-Dikatur, die 1990 endete, jenseits der Menschenrechtsverletzungen bis heute in Chile nachwirkt, dem sei die neueste Ausgabe „Aus Politik und Zeitgeschichte“ mit dem Schwerpunktthema Chile empfohlen.
Sämtliche Fotos dieses Beitrags sind private Bilder der Autorin, mit Ausnahme des Bildes von Michelle Bachelet.
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