Demokratiegeschichten

Der „freie Herr“ Knigge – Aufklärer, Demokrat, Menschenfreund

Hört man den Namen Knigge, so liegen Assoziationen zu gutem Benehmen, steifen Tischsitten und gekünstelter Etikette meist nicht fern. Viele Menschen verbinden mit dem Namen für gewöhnlich einen erhobenen Zeigefinger und einen vorgeschriebenen Verhaltenskodex. Dabei lag es Adolph Freiherr Knigge (1752-1796) fern, das Verhalten von Menschen in ein enges, strenges Korsett zu schnüren. Er war mitnichten der steife Benimm-Onkel und Moralapostel, für den ihn viele noch heute halten.

Stattdessen war er ein freiheitlich denkender Philosoph, Schriftsteller und Journalist im Zeitalter der Aufklärung. Als Anhänger der Französischen Revolution und Befürworter der mit ihr einhergehenden Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurde er öffentlich diffamiert und sollte zum Schweigen gebracht werden. Ein Blick auf das Leben dieses Freigeistes und sein als Benimm-Ratgeber missverstandenes Hauptwerk „Über den Umgang mit Menschen“ lohnt.

Junge Jahre

„Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten begründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muß dabei zum Grunde liegen.“

Adolph Freiherr Knigge wurde heute vor 268 Jahren – am 16. Oktober 1752 – auf dem Gut Bredenbeck bei Hannover geboren. Während die Mutter ihren kleinen Sohn vergöttert, verachtet der Vater ihn aufgrund seiner schwächlichen, „unmännlichen“ Konstitution. Obwohl das Gut der Familie hoch verschuldet ist, wächst der junge Knigge keineswegs in ärmlichen Verhältnissen auf. Im Gegenteil, nach außen hin lebt die Familie großzügig und legt großen Wert auf standesgemäßes Auftreten und gesellschaftliches Prestige. Stets sind viele interessante Persönlichkeiten zu Gast, unter anderem Freimaurer. Aus den Begegnungen mit diesen schöpft der kleine Adelsspross die Hoffnung, dem Vater beweisen zu können, „wie man auch ohne große körperliche Kraft, allein durch die Macht der Vernunft, durch Interesse, Beobachtung und soziale Intelligenz ein nützliches Mitglied der menschlichen Gemeinschaft werden kann.“

Erste Stelle und Blick hinter die höfische Fassade

Die Gelegenheit dazu erhält der junge Knigge nicht. Er ist elf, als er seine Mutter verliert, und nach dem Tod des Vaters mit 14 Jahren Vollwaise. Sein Erbe: Schulden in Höhe von 100.000 Reichstalern. Nichtsdestotrotz erhält er eine fundierte und umfassende Schulbildung. Von 1769 bis 1772 studiert er in Göttingen Jura und Kameralistik (Öffentliche Verwaltung). Noch vor Abschluss seines Studiums tritt er 1771 seine erste Arbeitsstelle in Kassel an.

Der Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel ernennt ihn zum Hofjunker und Assessor. Knigge, hochmotiviert und gerade einmal 18 Jahre alt, möchte am Kasseler Hof Karriere machen. Zunächst stehen die Zeichen dafür gut, doch im Laufe der Zeit blickt er hinter die Fassade der höfischen Welt – und ist enttäuscht von der oberflächlichen, dekadenten Lebensart und den Intrigen bei Hofe (die letztlich sogar dazu führen, dass er unfreiwillig mit Henriette von Baumbach verheiratet wird). Nach seinem Abschied vom Kasseler Hof Ende März 1775 führt ihn sein Weg erst nach Weimar, dann nach Hanau.

Ernüchterung in Hanau

In Hanau erhält er gefühlsmäßig endlich alles, wonach er sich so lange gesehnt hat: Bewunderung, Anerkennung und Wertschätzung. Er gründet eine Theatergruppe, führt selbst Regie und inszeniert Stücke, in denen seine freimaurerische Gesinnung und sein Engagement für die Ideale der Aufklärung zum Ausdruck kommen.

So erfüllend sein Leben aus idealistischer Perspektive ist, so prekär ist es aus wirtschaftlicher und finanzieller Sicht: Knigge hat weder eine Anstellung noch ein Amt oder gar Einkünfte. Alles, was er tut, basiert auf ehrenamtlichem Engagement und der Freude, sich Themen zu widmen, die ihm am Herzen liegen wie etwa Gemeinwohl, Bildung und Solidarität.

Zwar ist er in der Hanauer Gesellschaft beliebt, seine Familie kann er davon jedoch nicht ernähren. Die Bilanz seiner Aufenthalte und Tätigkeiten an deutschen Adelshöfen ist ernüchternd und resignierend: Nicht nur, dass Knigge menschlich enttäuscht ist (nachdem er auch in Hanau wieder in höfische Kabalen verwickelt wird), auch finanziell haben sie sich nicht ausgezahlt. Mit seinem Weggang aus Hanau 1780 ist für Knigge klar, dass er an einer höfischen Karriere und Existenz nicht mehr interessiert ist.

„(…) so war es wahrlich nicht Blödsinnigkeit, Kurzsichtigkeit, Unbekanntschaft mit Menschen, was mich irreleitete, sondern Bedürfnis, zu lieben und geliebt zu werden, Verlangen, tätig zu sein, zum Guten zu wirken.“

Einschlag eines neuen Lebenswegs

Der Freigeist Knigge ist nicht mehr gewillt, nach den Spielregeln absolutistischer Höfe zu spielen. Er lehnt deren Prinzipien und Despotie ebenso ab wie die Falschheit der Menschen bei Hofe (die er als gekünstelte Etikette wahrnimmt und verurteilt). Dies verwundert nicht, bedenkt man, welchen Werten sich der junge Mann – unter anderem nach der Lektüre von Jean-Jacques Rousseau, William Shakespeare und Gotthold Ephraim Lessing – verpflichtet fühlt: Natürlichkeit, Offenheit, Ehrlichkeit – Werte, die bei Hofe verpönt sind.

Seinen Idealen folgend schlägt Knigge einen neuen Lebensweg ein: den des freien Schriftstellers und politischen Publizisten. Dass er als Adliger einen bürgerlichen Beruf ergreift, ist auch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Umbrüche in der Zeit der Aufklärung zu verstehen. Knigge ist unfassbar produktiv und erfolgreich und wird eine viel gelesene „Stimme im intellektuellen Diskurs der literarischen Welt“. 1780 erscheint sein erster Roman, der „Roman meines Lebens“, in dem er seine negativen Erfahrungen an den deutschen Fürstenhöfen verarbeitet. Darüber hinaus verfasst er Theaterstücke, Romane, Rezensionen und Parodien sowie moralische, philosophische und politische Schriften, die sich den Themen Vernunft, Freiheit, Fortschritt und Aufklärung widmen.

Handeln im Geiste der Humanität und Aufklärung

Wie ein roter Faden zieht sich die Anziehungskraft der Freimaurerbewegung durch Knigges Biografie. Von Kindesbeinen an fühlt er sich deren Idealen (Freiheit, Solidarität, Toleranz) verbunden. Zudem sieht er in den Logen der Geheimbünde die einzige Möglichkeit, mit gleichgesinnten Männern über die gesellschaftlichen und politischen Themen der Aufklärung zu diskutieren. Denn politische Parteien, wie wir sie heute kennen, gab es im 18. Jahrhundert nicht. Die Annäherung an die Freimaurer und später an die Illuminaten ist Knigges Versuch, politisch handlungsfähig zu werden, zum Wohle der Menschheit, so sein Anspruch. Er möchte mit seinen Fähigkeiten der Allgemeinheit dienen, die Lebensbedingungen der Menschen verbessern und Verantwortung in Staat und Gesellschaft übernehmen. Nach anfänglicher Faszination distanziert er sich im Laufe der Jahre von beiden Bünden und wendet sich unter anderem wegen interner und personeller Unstimmigkeiten und Mauschelleien von den Logen ab. Dennoch ist es weiterhin sein Bestreben, im Geiste der Humanität und Aufklärung zu handeln.

Als Journalist nimmt er kritisch Stellung zu den Geschehnissen und Fragen seiner Zeit. 1783 verfasst er sechs politische Predigten „gegen Despotismus, Dummheit, Aberglauben, Ungerechtigkeit, Untreue und Müßiggang“, 1785 sechs weitere „über Demuth, Sanftmuth, Seelenfrieden, Gebeth, Wohlthätigkeit und Toleranz“. Im Jahr 1789 begrüßt der 36jährige Knigge die Französische Revolution und sympathisiert mit deren Werten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Sie sind für ihn keine hohlen Floskeln, sondern Prinzipien, nach denen er sich ein neues gesellschaftliches Zusammenleben vorstellt. Er ist der festen Überzeugung, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse auch in Deutschland geändert werden müssen. Dafür befürwortet er Reformen statt gewaltsamer Umwälzungen. Knigge ist kein radikaler Revolutionär. Vielmehr sieht er seine Aufgabe in der Schaffung von Öffentlichkeit durch seine Berichterstattung. Er agiert sozusagen als Multiplikator. In seinen Texten ist von Menschenwürde, Menschenrechten, Emanzipation, Mündigkeit der Bürger und der Idee eines republikanischen Verfassungs- und Rechtsstaats die Rede.

Vordenker und Volksaufwiegler

Der Autor Ingo Hermann, der 2007 eine umfangreiche Biografie über Knigge publizierte, bezeichnet den freigeistigen Freiherrn angesichts dessen als „Vorkämpfer für Demokratie und Aufklärung in Deutschland“.

„Seine wahre Bedeutung kann man vielleicht in einem einzigen Begriff zusammenfassen: Knigge war ein bedeutender Wegbereiter demokratischen Denkens.“

Ingo Hermann: Knigge. Die Biografie, Berlin 2007.

Einer seiner Gegner, Johann Georg Zimmermann, verleumdet Knigge als „Volksaufwiegler“ und greift ihn 1792 öffentlich an: „Alle deutschen Demokratennester sind der Widerhall Kniggescher Grundsätze, und Knigge ist der Widerhall der ganzen deutschen Aufklärerpropaganda.“

Die Folge: Knigge wird der Untreue verdächtigt und politisch bekämpft. Denn in Deutschland geht die Angst vor einem Übergreifen der Französischen Revolution um und schürt ein Klima des Misstrauens, der Zensur, Gewalt und Willkür.

Der „freie Herr“ Knigge

Es scheint legitim, Knigge als Demokraten zu bezeichnen. Seinem Selbstverständnis als freier Mensch folgend distanzierte er sich von seinem Adelstitel, indem er sich ausdrücklich „freier Herr“ Knigge nannte.

Titelblatt von Adolph Knigges Werk Über den Umgang mit Menschen (1. Band, 1. Auflage 1788)

Was wissen wir über den Charakter und die Eigenschaften dieses „freien Herrn“? Ihm wohlgesonnene Zeitgenossen beschreiben ihn als höflich, freundlich, charmant, eloquent, selbstbewusst, kreativ, unterhaltsam und fleißig. Er verfügte über schauspielerisches Talent und Freude an der Konversation mit anderen Menschen und war stets zu allerlei Scherzen und Schabernack bereit. Beliebt, aber auch gefürchtet waren sein satirischer Humor und sein geistreicher Witz. Seine scharfe Beobachtungsgabe und seine Aufmerksamkeit machten Knigge zum Menschenkenner – prädestiniert dafür, im Jahr 1788 sein bis heute bekanntestes Werk „Über den Umgang mit Menschen“ zu schreiben.

Die Intention des Buches ist es, „den Umgang leicht, angenehm zu machen und das gesellige Leben zu erleichtern.“ Daher enthalte es „Vorschriften, wie der Mensch sich zu verhalten hat, um in dieser Welt und in Gesellschaft mit andern Menschen glücklich und vergnügt zu leben und seine Nebenmenschen glücklich und froh zu machen.“

Plädoyer für einen menschlichen Umgang miteinander

Knigge ist weit entfernt davon, anderen Menschen diktieren zu wollen, wie sie sich zu benehmen haben. Sein Werk ist kein Benimm-Ratgeber, sondern ein politisches Buch, welches geleitet ist von den Ideen der Aufklärung. Er setzt sich darin für menschlichen Anstand (statt aufgesetzter Höflichkeit), einen wertschätzenden Umgang miteinander, geistige Unabhängigkeit, Volkssouveränität und gesellschaftliche Teilhabe ein. Aus heutiger Sicht handelt es sich gar um eine soziologische Studie. Wie aktuell das Buch bis heute ist, zeigt sich unter anderem daran, dass Knigge gegen gesellschaftliche Ausgrenzung Stellung bezieht, Vorurteile und Diskriminierungsformen wie Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Klassismus anprangert und zu kritischer Selbstreflexion aufruft.

„Sei vorsichtig im Tadel und Widerspruche! Es gibt wenig Dinge in der Welt, die nicht zwei Seiten haben. Vorurteile verdunkeln oft die Augen selbst des klugen Mannes, und es ist schwer, sich gänzlich an eines andern Stelle zu denken. (…) Lerne Widerspruch ertragen. Sei nicht kindisch eingenommen von Deinen Meinungen.“

Zu Glaubens-, Meinungs- und Religionsfreiheit äußert sich Knigge ebenso wie zur freien Entfaltung der Persönlichkeit:

„Man respektiere das, was andern ehrwürdig ist. Man lasse jedem die Freiheit in Meinungen, die wir selbst verlangen.“

„Wir sollen daher so billig sein, von niemand zu fordern, daß er sich nach unsern Sitten richte, sondern jedermann seinen Gang gehn lassen; denn da jedes Menschen Glückseligkeit in seinen Begriffen von Glückseligkeit beruht, so ist es grausam, irgendeinen zwingen zu wollen, wider seinen Willen glücklich zu sein.“

Vermarktung als Benimm-Ratgeber

Schon zu Lebzeiten Knigges war das Buch ein Erfolg, das in mehreren Auflagen erschien. Doch bereits kurz nach seinem Tod wurde es zum Benimm-Ratgeber umfunktioniert und darauf reduziert. Das pädagogisch kluge Werk wurde von Herausgebern entschärft, die ihm die politische Sprengkraft nahmen. Als Ratgeber ließ es sich viel besser vermarkten und verkaufen. Da es damals kein Copyright gab, konnte jeder neue Herausgeber nach Lust und Laune den Inhalt verändern, verfälschen, kürzen oder erweitern. In diesem unsäglichen Editierungs- und Tradierungsprozess liegt das Missverständnis begründet, dass Adolph Freiherr Knigge heute mehr als Benimm-Onkel (oder wirksames Marketing-Label) bekannt ist, denn als Wegbereiter der Aufklärung und Demokratie.

Im Alter von nur 43 Jahren stirbt Knigge nach schwerer Krankheit in Bremen. Auf seiner Grabinschrift ist zu lesen: „Bürgerfreund, Aufklärer, Völkerlehrer“. Als solchen wollen wir heute, an seinem 268. Geburtstag, an ihn erinnern.

Literatur:

Katharina Klasen ist Mitglied bei Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

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