Manche Dinge gehen einem auch nach längerer Zeit nicht aus dem Kopf. Vor gut einem Jahr berichteten wir von einem Informationsportal der Hamburger AfD. Deren Idee: Schüler*innen sollten ihre Lehrer*innen melden, wenn diese die Partei negativ darstellen würden. Denn letzteres würde dem „Neutralitätsgebot“ von Lehrkräften widersprechen.
Meine Bewertung damals: In der Regel haben Schüler*innen besser geeignete Vertrauenspersonen, an die sie sich im Zweifel wenden können, als Parteimitglieder. Außerdem gibt es bereits Richtlinien, die eine politische Vereinnahmung oder einseitige Darstellung durch Lehrer*innen verhindern sollen. Eine davon möchte ich heute genauer vorstellen: Den Beutelsbacher Konsens.
Wer hat sich den Beutelsbacher Konsens ausgedacht?
Der Beutelsbacher Konsens entstand 1976 auf einer Tagung der Baden-Württembergischen Landeszentrale für politische Bildung. Hintergrund war ein Streit über die Grundlagen und Zielsetzungen politischer Bildung. Dieser begann Anfang der 70er-Jahre mit einer Diskussion um die politischen und didaktischen Inhalte der neuen Lehrpläne in Hessen und NRW. Aus der schulpolitischen Debatte wurde dann eine politische Auseinandersetzung und ein Richtlinienstreit zwischen den Bundesländern. Weil nach jahrelangem Streit keine Lösung in Aussicht war, einigten sich die streitenden Fachleute schließlich auf einen didaktischen Minimalkonsens. Eben jenen Beutelsbacher Konsens, mit seinen drei Richtlinien.
1. Überwältigungsverbot
Was bedeutet „überwältigen“?
Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der „Gewinnung eines selbständigen Urteils“ zu hindern .
https://www.bpb.de/die-bpb/51310/beutelsbacher-konsens
Überwältigen heißt, Schüler*innen im Sinne einer erwünschten Meinung in eine Richtung zu drängen. Beispielsweise, als Lehrer*in die eigene Meinung als einzig Richtige darzustellen. Dadurch kann man Schüler*innen beeinflussen und an der Findung eines selbstständigen Urteils hindern. Ist das der Fall, hat man die Grenze von politischer Bildung zur Indoktrination überschritten.
Indoktrination ist in keinem Fall mit dem Lehrverständnis einer demokratischen Gesellschaft vereinbar. Denn die Erziehung zur Mündigkeit und freien Meinungsbildung ist ein, vielleicht der Bildungsauftrag von Lehrer*innen in der Demokratie.
2. Gebot zur Kontroversität
An das Überwältigungsverbot schließt das Gebot zur Kontroversität an.
Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.
https://www.bpb.de/die-bpb/51310/beutelsbacher-konsens
Ziemlich logisch, wenn man darüber nachdenkt: Am einfachsten stärkt man eine Position, wenn man andere Sichtweisen weglässt. Wenn die Schüler*innen nur eine Meinung zu einem Thema, also keine Optionen, kennen lernen, wird es für sie schwerer, eine differenzierte Sicht auf das Thema zu gewinnen. Lernen sie aber Argumente verschiedener Seiten kennen, denken sie darüber nach, welche sie überzeugen.
Befolgen Lehrer*innen das Gebot zur Kontroversität, spielt ihre eigene Position theoretisch keine Rolle mehr. Denn dann stellen sie neben dem eigenen Standpunkt auch solche dar, die diesem widersprechen. Und indem sie die Schüler*innen mit unbekannten Argumenten konfrontieren, brechen sie möglicherweise bestehende Urteile und Meinungen auf.
3. Erkennen eigener Interessen
Der letzte Punkt hängt mit der Erziehung zur Mündigkeit zusammen. Schüler*innen sollen lernen, politische Situationen zu analysieren und ihre eigenen Interessen zu erkennen. Manche meinen, dass dieser Punkt über die bloße freie Urteilsbildung hinausgeht. Denn im Wortlaut heißt es…
Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen.
https://www.bpb.de/die-bpb/51310/beutelsbacher-konsens
Allerdings ist „im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen“ eine weit interpretierbare Formulierung. Geht es darum, dass Schüler*innen ihre Meinung (auch außerhalb der Schule) vertreten können? Oder ist hier eine operationale Komponente gemeint? Vielleicht insofern, als dass Schüler*innen ihre Überzeugungen auch in Taten umsetzen.
Als Beispiel: Angenommen, die Klasse diskutiert über Umweltschutz. Ein paar Schüler*innen haben erkannt, dass ihnen das Thema wichtig ist. Sie sind in der Lage, Position zu beziehen. Darüber hinaus machen sie sich nun Gedanken, ob und wie sie ihr „Interesse“ in Engagement umsetzen wollen.
Beutelsbacher Konsens: eine Herausforderung
Darf ich als Lehrer*in oder politische*r Bildner*in meine Schüler*innen also gar nicht beeinflussen? Muss ich stets neutral sein? Darf ich meine eigene Meinung nicht zeigen? Dreimal nein.
Die Erziehung zur Mündigkeit ist ein sehr wichtiges Lehrziel. Ebenso der Grundsatz, Schüler*innen nicht zu überrumpeln. Doch Aktive in der politischen Bildung sind auch und vor allem dazu verpflichtet, für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzustehen. Aussagen, die sich gegen die Menschenwürde, Gleichberechtigung und demokratische Werte richten, sollten nicht so hingenommen werden. Wer solche Aussagen in der politischen Bildung einfach stehen lässt, wird schnell unglaubwürdig. Denn gegenüber menschenfeindlichen Äußerungen kann man in einer Demokratie alles mögliche, aber nicht neutral sein.
Letztendlich ist politische Bildung auch Werteerziehung. In der Demokratie bedeutet das, deren Werte zu vermitteln. Das gelingt am ehesten, wenn die Schüler*innen merken, dass man selber von diesen Werten überzeugt ist. Und das bedeutet, demokratisch mit anderen Meinungen umzugehen, diese zuzulassen. Reden und darüber diskutieren, Kritik üben, Grenzen ziehen – all das ist unabhängig von Parteizugehörigkeit möglich. Aber nicht im Zuge von Neutralität.
9 Kommentare
Wolfgang Dästner
2. Dezember 2019 - 21:14Danke für diese gute Zusammenfassung. So kurz und eindeutig! Wer diese Grundsätze beachtet, braucht keine Angst mehr zu haben, dass ihr/ihm Einseitigkeit vorgeworfen wird. Leider wurden die Beschlüsse erst sehr spät gefasst, so dass man in den Jahren zuvor kaum eine Hilfe gegen ungerechtfertigte Vorwürfe hatte.
Jens Jacobi
3. Mai 2021 - 12:04Eigentlich eine Thema über das ich mich informieren wollte, allerdings nach dem 3. Gendersternchen bin ich ausgestigen. Wer Bildung vermitteln soll, sollte erstmal lesbare Texte produzieren.
Heiko Hagenbuch
12. Mai 2021 - 23:16Der Gebrauch des Gendersterns in der Schule durch Lehrer widerspricht doch bereits dem Beutelsbacher Konsens…
Annalena B.
14. Mai 2021 - 9:34Lieber Herr Hagenbuch,
könnten Sie bitte erläutern, was Sie mit Ihrer Aussage meinen? Und wenn Sie von Lehrern reden, meinen Sie dann nur die männlichen Lehrkräfte?
Freundliche Grüße
Heiko Hagenbuch
15. Mai 2021 - 21:12Liebe Frau Annalena B.
– Überwältigungsverbot („im Sinne einer erwünschten Meinung in eine Richtung zu drängen.“)
– Gebot zur Kontroversität („nur eine Meinung zu einem Thema, also keine Optionen“)
Die Fragen: „Muss ich stets neutral sein? Darf ich meine eigene Meinung nicht zeigen?“ haben Sie ja ebenfalls beantwortet. Dass die fragliche Thematik weltanschaulich aufgeladen ist, steht wohl außer Frage, da die Schreibweise ja nicht der für Schulen vorgeschriebenen amtlichen Normschreibung entspricht.
Und zur Frage, ob Lehrer (=Personen, die…) nur männlich seien, habe ich kürzlich einen sehr schönen Leserbrief in der F.A.Z gelesen („Männer brauchen einen Zusatz“). Empfehlenswert!
Freundliche Grüße
H.H.
Annalena B.
17. Mai 2021 - 9:50Lieber Herr Hagenbusch,
ich glaube, in dem Punkt, dass man Schüler*innen mit der eigenen Meinung nicht überrumpeln sollte, sind wir uns einig. Aber eine Lehrperson, die statt gendern vorzuschreiben oder zu verbieten, ihre eigenen Argumente vorlegt und die Nutzung dann trotzdem offen stellt, würde dies auch nicht tun.
Eine Diskussion, wie wir sie zum Beispiel gerade hier auf dem Blog führen, könnte doch auch in der Schule fruchtbar sein? Sicher ist Gendern ein Thema, zu dem auch viele junge Leute schon eine Meinung haben – unabhängig davon, ob die Schreibweise in der Schule vorgesehen ist. (Ich erinnere mich an eine spannende Diskussion in meinem Deutschkurs.)
Vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, Ihre Position nochmal zu erläutern. Den angegebenen Leserbrief in der F.A.Z. konnte ich leider nicht lesen (Paywall), aber wer das Abo hat, kann ihn mit dem Titel problemlos finden.
Freundliche Grüße zurück
Eliza Mcbrierty
5. Oktober 2022 - 14:25Sorry, beim zweiter Gender-Sternchen war ich raus…
Wie kann man Sprache so derart verhunzen?
Annalena B.
5. Oktober 2022 - 14:29Hallo Eliza,
da wir immer wieder mit Kommentaren und Kontroversen zum Thema zu tun haben, haben wir mittlerweise eine 3-teilige Diskussion, in der verschiedene Autor*innen ihre – sehr unterschiedlichen – Meinungen dazu schreiben. Hier Teil 1, darauf noch 2 weitere Teile: https://www.demokratiegeschichten.de/gendern-und-demokratie/
Lass uns doch einen Kommentar da, wenn du die Beiträge gelesen hast, uns würde interessieren, was du von den Texten hältst.
Freundliche Grüße!
Annalena B.
5. Oktober 2022 - 14:33Da die Lesenden dieses Artikels das Thema Genderstern sehr zu bewegen scheint, hier ein Hinweis auf Beiträge zum Thema „Gendern“, „geschlechtergerechte Sprache“ und Demokratie, die wir auf dem Blog haben:
Gendern und Demokratie: https://www.demokratiegeschichten.de/gendern-und-demokratie/
Gendern und Demokratie – eine Replik: https://www.demokratiegeschichten.de/gendern-und-demokratie-eine-replik/
Geschlechtergerechte Sprache und demokratische Debattenkultur: https://www.demokratiegeschichten.de/geschlechtergerechte-sprache-und-demokratische-debattenkultur/