Es ist eine der perfidesten antisemitischen Schmähschriften überhaupt: Die „Protokolle der Weisen von Zion“.
An dieser Stelle möchte ich den Lesenden inhaltliche Details ersparen. Für das Verständnis dieses Texts reicht es zu wissen, dass die Protokolle vorgeben, Teil einer Verschwörung zum Erstreben jüdischer Weltherrschaft zu sein. Dies solle u.a. durch eine künstliche Verknappung der Zahlungsmittel und eine daraus resultierende Staatsverschuldung erfolgen. Angeblich seien die „Protokolle“ 1897 auf dem Zionistenkongress in Basel verfasst worden.
Bereits kurz nach dem Erscheinen des Textes – erstmals 1903 in Russland – kamen Zweifel an seiner Authentizität auf. Seit Jahrzehnten ist wissenschaftlich erwiesen, dass es sich bei den „Protokollen“ um eine Fälschung handelt.
Doch noch immer gibt es Menschen, die an ihre Echtheit glauben. Und damit antisemitische Stimmungen verbreiten.
Schweizer Schundliteratur
So auch 1933 die Mitglieder der Nationalen Front in Bern, Schweiz. Sie sind eine faschistische Partei, die als Ziel den Anschluss an Nazi-Deutschland hat. Bei der Versammlung im Juni 1933 liegen die Protokolle bei ihnen aus.
Doch diesmal hat die Versammlung und die Auslage der Broschüren ein Nachspiel. Denn als Reaktion auf den zunehmenden gewaltsamen Antisemitismus in Deutschland gründete sich in Berns jüdischer Gemeinde Ende April 1933 ein Aktionskomitee. Das Ziel dieser Gruppe war es, antisemitische Vorfälle in der Schweiz zu beobachten und wenn möglich gegen diese zu handeln.
Gegen den Antisemitismus an sich vorzugehen, ist zu dieser Zeit schwer. Denn in der Schweiz herrscht die Redefreiheit, die sehr umfassend ist. Doch im bernischen Strafgesetz findet der Anwalt Boris Lifschitz einen anderen Ansatzpunkt: Den Artikel gegen Schundliteratur.
Dieser Artikel richtet sich vor allem gegen Porno-Geschichten, aber ausdefiniert ist nicht, was alles zu „unsittlicher Literatur“ zählt. Dies sorgt seit 1916 vor allem bei den Kritiker:innen des Paragraphen für Ärger und viele Diskussionen. Denn weil die Beurteilungskriterien beliebig und interpretierbar sind, fallen darunter beispielsweise auch Aufklärungsbücher, Kriminalromane etc.
Die Konsequenzen der Schundliteratur, da sind sich die Befürworter:innen des Gesetzes einig, sind u.a. die Untergrabung von Autorität, die Verletzung sittlicher Normen, die Verrohung der Leser:innen und somit die Förderung von Verbrechen. Unter diesem Paragraphen also entscheidet sich die Israelitische Kultusgemeinde Bern (heute Jüdische Gemeinde Bern) Ende Juni 1933 zur Klage gegen die rechtsextreme Nationale Front und den Bund Nationalsozialistischer Eidgenossen.
Der Prozess: Eine Stellvertreterfrage?
Zwei Jahre dauert der Prozess gegen die fünf Angeklagten. Es handelt sich bei ihnen um Theodor Fischer, Bundesleiter des Bund Nationalsozialistischer Eidgenossen (BNSE), der für die Verbreitung der Protokolle und das Erscheinen eines weiteren antisemitischen Artikels zuständig war. Desweiteren als Vertreter der Berner Gauleitung des BNSE Georg Haller und Johann Konrad Meyer. Weiterhin standen wegen des Vertriebs von Schriften der Nationalen Front an diesem Abend Silvio Schnell, Mitglied der Nationalen Front und Walter Ebersold vor Gericht.
Bald ist klar, dass der Prozess eigentlich um eine große Frage kreist: Sind die „Protokolle“ authentisch oder sind sie eine gefälschte und verleumderische Schrift? Diese Grundsatzfrage macht den Prozess zu einem Streitfall von Jüdinnen*Juden und Schweizer Nazis. Etwa 200 Personen, teils Journalist:innen der internationalen Presse, verfolgen den Prozess vor Ort.
Zur zweiten Verhandlungsrunde sprechen für die Seite der jüdischen Kläger etwa 20 Zeug:innen aus Russland, Frankreich, Schweden, Rumänien, England, den Niederlanden und der Schweiz vor. Sie geben Auskunft über die Herkunft der Schriften. Unter ihnen sind Experten wie der Schweizer Schriftsteller und Journalist Carl A. Loosli. Aber auch Zeugen des Zionistenkongeresses in Basel, auf dem die Schrift angeblich entstanden sei.
Die Protokolle: Eine Fälschung
Letzteres lehnen alle Zeug:innen ab. Stattdessen wird die These aufgeworfen, die „Protokolle“ seien gegen 1900 von dem zaristischen Geheimdienstes Ochrana geschrieben worden. Und als Vorlage habe das Werk des Franzosen Maurice Joly „Dialogue aux enfers entre Machiavel et Montesquieu“ gedient. Dieses handelt eigentlich vom Machthunger Napoleons III., aber sein Text wurde auf Jüdinnen und Juden umgemünzt.
Während die Experten der Klägerseite Belege für ihre Argumente vorbringen, legt der Experte der Angeklagten keine vor. Er ist selber Mitglied der Nationalen Front, für ihn ist der Glaube an die „Protokolle“ genug. Ein Nachweis für ihre Echtheit ist für ihn unerheblich, den steigenden Antisemitismus wertet er als Argument für seine Seite.
Endgültig eine neue Dimension erhält der Prozess durch den Auftritt des Leiters der NS-Propagandamaschine „Weltdienst“ Ulrich Fleischhauer. Denn nun werden auch die Nationalsozialisten in Deutschland auf den Prozess aufmerksam.
Das Urteil
Fleischhauers Auftritt lässt den Prozess zu einem Prozess zwischen Nazis generell und Jüdinnen und Juden werden. Fünf Verhandlungstage lang lässt sich Fleischhauer über die jüdische Bevölkerung, die er als „niedrigste Rasse“ sieht aus. Er fordert vor dem Berner Gericht gar ihre Eliminierung durch physische Vernichtung – also ihre Ermordung.
Bis in den Mai ziehen sich die Anhörungen und Verhandlungen. Dann, am 14. Mai 1935, verkündet das Gericht das Urteil. Der Gerichtspräsident Walter Meyer erklärt die „Protokolle“ zur Schundliteratur.
Allerdings verurteilt er nur zwei der fünf Angeklagten zu Strafen, die als symbolisch gelten können. Neben Bußgeldern von 20 und 50 Franken müssen die Verurteilten einen Teil der Staats- und Klägerkosten tragen. Die Verurteilten legen daraufhin Berufung bei der nächsthöheren Instanz, dem Obergericht, ein.
Die Revision
Zwei Jahre später kommt das Obergericht zu einer anderen Ansicht als das Berner Regionalgericht. Es erklärt, die „Protokolle“ seien keine Schundliteratur. Und spricht die verurteilten Nazis daher frei.
Es stimmt dem Berner Urteil aber insofern zu, dass die Angeklagten die Echtheit der „Protokolle der Weisen von Zion“ nicht beweisen konnten. Und es gibt Anstoß zu der Frage, ob derlei „ungerechte Beschimpfungen und Besudelungen“ noch unter der Pressefreiheit geduldet werden könnten. Desweiteren werden den Nationalsozialisten ihre vorherigen Kosten mit folgender Begründung nicht zurück erstattet:
Wer aber solche Hetzartikel gemeinster Sorte in Verkehr setzt, muss die ihm daraus entstehenden Kosten selbst tragen.
Urteilsbegründung vom 1. November 1937.
Das Nachspiel
Ebenfalls 1937 schreibt Georges Brunschvig, der Anwalt der Klägerseite, mit seiner Dissertation „Die Kollektiv-Ehrverletzung“ eine erste Vorstufe der heutigen Antirassismus-Strafnorm.
An den Berner Prozess erinnern sich heute die wenigstens. Auf die „Protokolle von Zion“ trifft dies leider nicht zu.
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