Der Tag vor dem Bau der Berliner Mauer und das Ende meiner Freiheit
Der 22-jährige Student Klaus Otto kam 1961 aus Düsseldorf in seine Vaterstadt Berlin, um an der FU (Freie Universität) sein Studium der Volkswirtschaft und der Politischen Wissenschaften fortzusetzen. Hier berichtet er, was ihm am Tag vor dem Mauerbau geschah.
Das Jahr 1961 fing für mich (Jahrgang 1939 geboren in Berlin) richtig gut an. Durch Vermittlung meiner Schwester Helga bekam ich vom damaligen NWDR (heute WDR) das Angebot, als Kleindarsteller bei der Vorbereitung auf die Geschicklichkeitssendung „Nur nicht nervös werden“ am 29.3. und 1.4.1961 zu einem Honorar von je DM 25,00 mitzuwirken. Wir Kleindarsteller mussten ausprobieren, ob die vorgesehenen Aufgaben für die Kandidaten im Publikum in der späteren Sendung eventuell zu schwierig sein würden. Eine nicht alltägliche Erfahrung, die mir viel Spaß gemacht hat.
Für den Rest des Jahres schienen die Zeichen auch günstig. Ich verbrachte meine Sommerferien – bei wunderbarem Wetter – in Westberlin, hatte die Immatrikulation für mein Wunschstudium an der FU Berlin in der Tasche, und auch die Unterkunft war geregelt. Aber am Ende kam es ganz anders.
Jeden Tag fuhr ich damals von Westberlin mit der S-Bahn über den Bahnhof Friedrichstraße in den Ostteil der Stadt, um meine Oma in Pankow zu besuchen. Ich besorgte dann jedes Mal für den Grenzübertritt eine Tagesaufenthaltserlaubnis, die bis 24.00 Uhr galt. Danach musste ich zurück in Westberlin sein.
12. August – Eine Diskussion in der Friedrichstraße
Damals machte ich viele Fahrten in Ost- und Westberlin und schickte jeden Tag eine Ansichtskarte nach Hause bis zum 12. August 1961, dem Tag, der meine schönen Pläne für Berlin zunichte machte. An diesem schicksalhaften warmen Sommertag, traf ich zufällig am Brandenburger Tor ein Auto mit drei amerikanischen Touristen, denen ich anbot, ihnen Berlin zu zeigen, was sie gern annahmen. Wir fuhren durch West- und Ostberlin und auch nach Pankow zu meiner Oma. Dabei kamen wir auch am Gefängnis des MfS (Ministerium für Staatssicherheit, das der Gestapo des Dritten Reichs entspricht) vorbei, worüber ich meine Amerikaner informierte, ohne zu ahnen, was ein paar Stunden später passieren sollte. Am Schluss der Fahrt ließen sie mich am Bahnhof Friedrichstraße aussteigen.
Als ich die Bahnhofshalle betrat, gab es dort einen großen Menschenandrang vor einer Ausstellung mit dem Thema „Blutrichter in Westdeutschland“. Mittendrin eine kleine Gruppe, ca. acht Leute aus der DDR und aus dem Westen, die leidenschaftlich mit einem Professor der Humboldt Universität stritten.
Ich drängelte mich durch die Menge bis zur Diskussionsgruppe. Der Professor behauptete u.a., Westdeutschland sei eine Diktatur, weil die KPD verboten war, und er beschuldigte Deutschland der Aufrüstung mit Atomwaffen. Außerdem kritisierte er das Vorhandensein von Generälen in der Bundeswehr, die schon in der Wehrmacht der Nazizeit gedient hatten. Ich mischte mich in die heftige Auseinandersetzung ein und verteidigte unsere Regierung. U.a. sagte ich: „Es stimmt, dass es in der Bundeswehr alte Generäle aus der Wehrmachtszeit gibt, aber in der Volksarmee der DDR muss es ja auch Generäle aus der Wehrmacht geben, denn wo hätten denn sonst die Generäle der Volksarmee herkommen sollen.“ Und: „Die Bundesregierung ist keine Diktatur, da sie aus freien Wahlen hervorgegangen ist. Ich gebe aber zu, dass das Verbot der KPD nicht demokratisch ist. Aber Sie lassen ja auch nicht Regimegegner frei herumlaufen“.
Verhaftung durch die Volkspolizei
Plötzlich kam Bewegung in die Massen, und aus allen Ein- und Zugängen des Bahnhofsgebäudes kamen Vopos (Volkspolizisten) und forderten die Anwesenden auf: „Gehen Sie auseinander, gehen Sie auseinander!“ Beim Weggehen sagte ich noch zu einem anderen: „Ich denke, hier gibt es Diskussionsfreiheit“. (Die DDR-Verfassung garantierte ja das Recht auf freie Rede). Da tippte mir jemand von hinten auf die Schulter und sagte: “Kommen Sie mit. Wir wollen uns mit Ihnen mal über Diskussionsfreiheit unterhalten“.
Wir, die Diskutanten, einige Bürger der DDR, zwei andere Westdeutsche und ich, wurden in eine “Grüne Minna“ (Fahrzeug der Polizei) verfrachtet und fuhren im Eiltempo mit Martinshorn zum Polizeigefängnis in der Keibelstraße am Alexanderplatz. Dort mussten wir in einem Korridor auf die Vernehmung warten. Während die Ostberliner einer nach dem anderen zur Vernehmung hereingerufen wurden, waren wir Westdeutschen zunächst noch guter Dinge, besonders der Westberliner flachste herum, weil wir der irrigen Auffassung waren, uns Bürgern der Bundesrepublik könnte nichts passieren.
Die Vernehmung
Damit war es aber zu Ende, als der Westberliner von der Vernehmung wieder herauskam kreidebleich und wortlos, für einen Berliner sehr ungewöhnlich. Da wurde auch mir mulmig.
Ich kam als Letzter an die Reihe und wurde in einen abgedunkelten Raum geführt – nur auf dem Schreibtisch des Vernehmungsbeamten war eine Lampe– und musste mich mit dem Gesicht zur Wand hinsetzen. So wie man es aus Krimis im Fernsehen kennt. Der Beamte fragte mich: “Was tun Sie hier im Demokratischen Sektor der Stadt Berlin? Wer hat Sie geschickt?“ Als ich wahrheitsgemäß antwortete, dass ich meine Ferien in Westberlin verbrachte und meine Oma besuchen wollte, wurde er wütend, weil ihm die Antwort gar nicht gefiel.
“ Das können Sie Ihrer Großmutter erzählen“ entgegnete er. Und er fragte mich, was ich denn im Bahnhof Friedrichstraße gesagt hätte. Ich konnte zunächst gar nichts sagen, ich hatte, wie man heute sagen würde, einen „blackout“. Er fragte wiederholt, wer mich geschickt hätte. Immerhin hatte ich bei meiner Festnahme neben meinen Papieren auch meinen Taschenkalender mit vielen Adressen von Amerikanern bei mir, was mich angesichts der damaligen politischen Lage, wohl verdächtig machte. ( Zur Erläuterung: Es handelte sich dabei um Namen von Student(inne)n, die ich während meines Studiums am (Quäker) Earlham College in Richmond, Ind., im Jahr davor von Juni 1959 – September 1960 kennengelernt hatte. Den Aufenthalt in den USA verdankte ich der Einladung meines amerikanischen Brieffreundes Peter Ashelman nach meinem Abitur im Juni 1959. )
Konfrontation mit Zeugenaussagen
Mindestens zweimal unterbrach der vernehmende Kriminalbeamte wütend die Vernehmung und riss den Bogen mit dem Protokollansatz aus der Schreibmaschine, weil er mit meinen Antworten nicht zufrieden war. Ich konnte mich aber wirklich nur daran erinnern und zu Protokoll geben, was ich im Bahnhof Friedrichstraße zur Frage der Generäle in der Volksarmee und zum Verbot der KPD gesagt hatte. Schließlich rief er zornig: „Ich habe hier drei Seiten mit Aussagen von Zeugen über Ihre provozierenden Äußerungen!“ Worauf ich erwiderte, er möge sie mir doch vorlesen, damit ich darauf antworten könnte, und zu meinem Glück las er die ganzen „Zeugenaussagen“ vor, so dass ich nun wusste, was man mir vorwarf. (Es gibt m.E. – aufgrund der Erfahrungen der Mitgefangenen – vor einem Prozess in der U-Haft nichts Schlimmeres, als die Ungewissheit darüber, was einem alles zur Last gelegt wird).
Ich bestätigte einiges, aber vielen Aussagen widersprach ich. Dennoch forderte er von mir, das Protokoll mit den Aussagen der „Zeugen“ zu unterschreiben. Andernfalls drohte er, käme ich vor ein Schnellgericht. Davor hatte ich aber Angst, weil ich dann ohne Verteidiger gewesen wäre. Also unterschrieb ich aus Furcht, obwohl Vieles nicht der Wahrheit entsprochen hatte.
Nach dieser Vernehmung wurden wir in einen großen vergitterten Raum abgeführt, der voll von verhafteten Kriminellen war. Es war für uns „Politische“ eine unangenehme gespenstische Atmosphäre, zwischen solchen „normalen Kriminellen“ die Nacht zu verbringen. (Von den Vorgängen draußen, d.h. Bau der Mauer – hatten wir keine Ahnung).
Der zweite Teil erscheint am 4. Februar. Darin beschreibt Klaus Otto seinen Prozess, die Zeit im Gefängnis und schlussendlich, wie er wieder frei kam.
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