Demokratiegeschichten

Den Willen des Volkes ermitteln – Veronika Ostertag und die Wahlhilfe (II)

Teil I findet ihr hier.

So auch am 2. Dezember 1990, als die Wahlen zum 12. Deutschen Bundestag stattfinden. Erstmals seit fast sechs Jahrzehnten geben alle Deutschen in einer gemeinsamen demokratischen Wahl ihre Stimme ab. Das Bundeswahlgesetz gilt nun auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR.

Helmut Kohl im Wahlkampf in Erfurt 1990; Bundesarchiv, Bild 183-1990-0220-032 / CC-BY-SA 3.0.

Demnach müssen Wahlen in Deutschland nach bestimmten grundsätzlichen Kriterien durchgeführt werden, um den demokratischen Grundsätzen der Verfassung zu entsprechen (Art. 38 GG). Diese besagen, dass alle volljährigen Bürger:innen der Bundesrepublik unabhängig von etwa Geschlecht oder Beruf wählen dürfen. Sie votieren dabei direkt für die Abgeordneten, die am Ende im Parlament sitzen, nicht für irgendeine Art Zwischeninstanz. Die Wähler:innen dürfen ihre Wahlentscheidung dabei ohne Beeinflussung von außen treffen. Dazu gehört im Zweifel auch die Entscheidung, überhaupt nicht zu wählen. Alle abgegebenen Stimmen zählen gleich viel, unabhängig von beispielsweise dem Einkommen der Wähler:innen. Diese geben ihre Stimme geheim ab und müssen ihre Wahlentscheidung niemandem mitteilen, wenn sie das nicht möchten.

Damit diese Ideale eingehalten werden können, benötigt jedes demokratische System Menschen, die sich dafür einsetzen, dass ihre Mitbürger:innen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können: die Wahlhelfer:innen. Dabei handelt es sich um ein Ehrenamt, und es sind tatsächlich vor allem Freiwillige, die den sogenannten Wahlvorstand, bestehend aus bis zu zehn Personen, in einem Wahllokal bilden. Bei bundesweiten Wahlen, also Bundestags- und Europawahlen, werden 650.000 Wahlhelfer:innen benötigt. Sie verteilen sich auf über 75.000 Wahlbezirke in der gesamten Bundesrepublik. Traditionell klagen deutsche Wahlämter allerdings über zu wenige Freiwillige, weswegen kurz vor Wahlen in der Presse oft zum Dienst an der Urne aufgerufen wird. Stehen immer noch nicht genug Freiwillige zur Verfügung, werden in der Regel Beamte eingesetzt. So ist es auch bei Veronika Ostertags erstem Einsatz als Briefwahlhelferin. Seither meldet sie sich immer wieder freiwillig, um die postalische Willensbekundung des Volkes auszuwerten.

Aufgaben im Wahllokal

Im klassischen Wahllokal, das meist um acht Uhr morgens öffnet, sehen die Aufgaben der Wahlhelfer:innen etwas anders aus. Hier müssen sie nach Überprüfung der Wahlscheine der Bürger:innen die Stimmzettel ausgeben, die Wahlteilnahme vermerken und den ordnungsgemäßen Ablauf der Wahl sichern. Dazu gehört auch gelegentlich, für Ruhe und Ordnung im Wahllokal zu sorgen und für alle Wähler:innen händisch die Wahlurne freizugeben. Nach Ende der Wahlzeit – in der Regel schließen die Wahllokale um 18 Uhr – müssen sie auch hier, wie Ostertag und ihre Kolleg:innen bei der Briefwahl, die Stimmen auszählen und offiziell das Wahlergebnis feststellen. Obwohl der Trend in Richtung Briefwahl geht, möchten immer noch zahlreiche Wähler:innen ihre Stimme vor Ort abgeben. Deshalb kann das Auszählen auch hier im Wahllokal bis spät in die Nacht dauern.

Als Entschädigung für ihre Mühe erhalten die Wahlhelfer:innen ein sogenanntes „Erfrischungsgeld“, dessen Höhe von Bundesland zu Bundesland variiert, in Berlin sind es beispielsweise 50 Euro. Diese „Bezahlung“ entspricht aber selbstverständlich nicht dem tatsächlichen Aufwand und gilt deshalb eher als symbolische Geste. Die meisten Wahlhelfer:innen sind sowieso aus Überzeugung in diesem Ehrenamt tätig.

Bei der Bundestagswahl 1961 warten Wähler:innen vor einer Wahlkabine; Bundesarchiv, B 145 Bild-F011303-0009 / Steiner, Egon / CC-BY-SA 3.0.

Wahlen wären ohne Wahlhelfer:innen nicht möglich

Wahlhelfer:innen wie Veronika Ostertag erfüllen einen essenziellen Dienst für die Demokratie. Wahlen, das Fundament dieses politischen Systems schlechthin, wären ohne sie nicht möglich. Wer dafür bereitwillig Freizeit opfert, glaubt fest an die Werte, die es so nur in einer Demokratie gibt. Obwohl Veronika Ostertag politische Überzeugungen hat und für diese in Gesprächen oder auf einer Demonstration eintritt, ist sie in keiner Partei. Sie ist vielmehr Anhängerin der Demokratie als System. Deshalb sind Wahlen und Wählengehen fundamental wichtig für sie.

Deshalb zweifelt sie an dieser ehrenamtlichen Tätigkeit nie wirklich. Es gibt durchaus Momente, wenn beispielsweise im Ablauf etwas nicht funktioniert, in denen sie sich fragt, warum sie nicht wie die meisten Menschen ihren freien Sonntag genießt. Aber diese Momente sind schnell vorbei, auch weil sich die meisten Probleme nach kurzem Durchatmen und nochmaligem Zählen wieder beheben lassen – besonders wenn man schon so viel Erfahrung wie Veronika Ostertag hat.

Obwohl beim Stimmenauszählen alles sehr strukturiert und bürokratisch ablaufen muss, vergessen die Wahlhelfer:innen nie, dass es gerade um die Feststellung des politischen Willens des Volkes geht. Gerade wenn dann die ersten Hochrechnungen bekannt werden, wird dies auch mal mit dem verglichen, was man selbst gerade auszählt. Denn Wahlhelfer:innen wie Veronika Ostertag sind überzeugte Demokrat:innen, die an das System, in dem wir leben, glauben. Dies ist schon ein Wert an sich, gerade in Zeiten, in denen Falschmeldungen und Verschwörungstheorien die Demokratie und ihre Werte zu untergraben versuchen. Wenn Menschen dann nicht nur partizipieren, sondern Partizipation für andere möglich machen, ist dies Demokratie in Reinform.

Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus der Publikation Vorbilder der Demokratiegeschichte. Handlungen und Einstellungen, die beeindrucken und Orientierung geben können. Diese und weitere Veröffentlichungen von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. können kostenfrei in der Geschäftsstelle bestellt werden und stehen hier zum Download zur Verfügung.

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Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

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