Als nach der Sommerpause am 4. September 1989 das erste Friedensgebet in der spätgotischen Nikolaikirche stattfindet, ist gerade Herbstmesse in Leipzig. Deshalb sind zahlreiche Journalist:innen in der Stadt, auch aus dem Westen. Sie können sich sogar frei bewegen und überall drehen. Mehr als 40 von ihnen sind an diesem Tag an der Nikolaikirche, um vom Friedensgebet zu berichten – auch weil den Medienvertreter:innen im Voraus Informationen zugespielt werden, dass sich etwas Besonderes ereignen könnte.
In der Tat haben einige Oppositionelle, unter ihnen die 24-jährige Gesine Oltmanns, Transparente an der Polizei vorbei in die Kirche geschmuggelt und halten sie nun unter ihren Jacken versteckt.
Als das Friedensgebet am frühen Abend zu Ende ist und die Teilnehmenden nach draußen auf den Nikolaikirchhof strömen, gesellen sie sich zu den dort Wartenden, die keinen Platz mehr im Kircheninneren bekommen konnten. Die Friedensgebete in der Kirche und die anschließenden Veranstaltungen gehören zu den wenigen Möglichkeiten, sich außerhalb der vom Staat gewünschten Formate politisch zu engagieren. Heute stehen knapp 1.000 Menschen auf dem Kirchhof, unterhalten sich und rufen Parolen. Zunächst sind wie üblich die „Ausreiser“ die überwiegende Mehrheit. Ihr Ruf „Wir wollen raus“ schallt über den Nikolaikirchhof. Doch heute rufen andere Demonstrierende auch „Wir bleiben hier“. Es sind diejenigen, die tatsächlich Hoffnung haben, dass eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse möglich ist. Die Vielschichtigkeit der DDR-Opposition tritt deutlich zutage.
Für ein offnes Land mit freien Menschen
In diesem Moment entrollt Gesine Oltmanns zusammen mit ihrer Freundin Katrin Hattenhauer eines der versteckten Transparente. Es ist ein altes Bettlaken der Großmutter, auf dem in unkomplizierten Worten „Für ein offnes Land mit freien Menschen“ geschrieben steht. Die beiden halten das Transparent so hoch sie können und spannen es zwischen sich auf, sodass der Text klar zu lesen ist. Zahlreiche Kameras halten die Szene fest. Hinter den beiden Frauen entrollen Demonstrierende drei weitere Plakate, die ebenfalls von Oltmanns und Hattenhauer mitgebracht wurden: „Gegen den Strom – Freies Reisen für alle“, „Vereinigungsfreiheit – Versammlungsfreiheit“ und „Reisefreiheit statt Massenflucht“ stehen darauf.
Die Demonstrierenden fordern unverkennbar Reise-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit für alle. Die ausformulierte Botschaft, gerade die auf dem von Gesine Oltmanns gehaltenen Transparent, soll dabei möglichst viele Leute ansprechen. Sie soll einfach und dabei trotzdem wirkungsvoll sein. Der Plan geht auf: Sofort reihen sich zahlreiche Menschen auf dem Nikolaikirchhof in Zustimmung hinter den vier Transparenten ein.
Bestärkt durch die Medien
Oltmanns und die anderen jungen Demonstrierenden fühlen sich aufgrund der Anwesenheit zahlreicher Westmedien, die ein zu repressives Verhalten der Staatsmacht sofort in alle Welt berichten würden, an diesem Tag recht sicher. Die Oppositionellen gehen deshalb nicht davon aus, dass die Staatssicherheit zahlenmäßig groß auftreten und die Aktion beenden wird. Und tatsächlich kommt es an diesem Tag nicht zu Verhaftungen.
Aber schon nach wenigen Augenblicken stürmen einige kräftig gebaute Männer auf Oltmanns, Hattenhauer und die anderen Demonstrierenden zu. Die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Zivil versuchen, ihnen die Transparente gewaltsam zu entreißen. Es kommt zu einem Handgemenge, einige Demonstrierende werden zu Boden gestoßen. Oltmanns ringt noch kurz um das Plakat, muss sich dann aber den körperlich überlegenden Männern der Staatssicherheit geschlagen geben.
Wie von den Demonstrierenden erhofft, wird die ganze Szene von westlichen Medien gefilmt und später etwa in der westdeutschen Tagessschau gezeigt. Für alle sichtbar und nicht mehr zu bestreiten hat die DDR-Staatsmacht ihre Art des Umgangs mit Oppositionellen unfreiwillig der ganzen Welt vorgeführt. Eigentlich wollen Oltmanns und die anderen noch die Transparente an der Spitze eines Demonstrationszuges Richtung Karl-Marx-Platz tragen. Obwohl es dazu nicht mehr kommt, ist die Aktion langfristig gesehen ein großer Erfolg.
Freiheit in der Kirche
Die evangelische Nikolaikirche in Leipzig ist in den 1980er Jahren ein Raum, in dem man sich offener informieren und austauschen kann als an den meisten anderen Orten in der DDR. Am Schwarzen Brett finden die Besucher:innen etwa aktuelle Nachrichten, auch zu politischen Ereignissen aus dem Ausland, und in einem Fenster an der Außenmauer sind die Namen von Verhafteten aufgelistet. Die Friedensgebete in der Nikolaikirche finden bereits seit September 1982 statt, initiiert vom Diakon und Jugendlichen aus der Gemeinde, die sich selbst „Basisgruppen“ nennen. Sie wollen den Freiraum nutzen, um über alles zu sprechen, was ihnen auf dem Herzen liegt, persönlich, politisch und gesellschaftlich. Ob man christlich-religiös ist oder nicht, spielt dabei keine Rolle.
Aufgrund der massiven Restriktionen bieten sich Gottesdienste als Möglichkeit zur Versammlung an. Denn zumindest möchte die DDR-Regierung den Schein wahren, dass es in ihrem Staat so etwas wie Religionsfreiheit gibt. Zunächst sind die Friedensgebete schwach besucht, doch mit der Zeit kommen immer mehr Teilnehmende. Dies fällt auch der SED-Führung auf. Je mehr Menschen die Friedensgebete besuchen, desto mehr Mitarbeitende des MfS mischen sich unter die Menge.
Teil II dieses Beitrags erscheint am 18.11.
2 Kommentare
Klaus Karl Otto
21. November 2022 - 11:08Hallo Herr Engst,
danke für diesen spannenden Artikel über die Friedensgebete in Leipzig und dafür, dass Sie an die damalige dramatische Situation in der DDR erinnert haben.
Wir Westdeutschen haben zwar die geschilderten Ereinisse im Fernsehen verfolgen können, aber in der Mehrheit wohl wieder vergessen, wie wertvoll die Freiheit ist und mit welchem Mut die Menschen um Frau Gesine Oltmanns dafür gekämpft haben.
Wir müssen diesen Menschen dankbar sein, dass sie nach anfänglicher Unterdrückung letztlich
zu der erfolgreichen friedlichen Revolution beigetragen haben.
Ulli E.
22. November 2022 - 7:42Hallo Herr Otto,
vielen Dank für Ihren freundlichen Kommentar. An den Wert der Freiheit gilt es in der Tat immer wieder aufs Neue zu erinnern – hier auf dem Blog werden wir dies auf jeden Fall weiterhin tun!
Liebe Grüße