Noch bevor ich auf die Klingel des Einfamilienhauses in Heide Kreis Dithmarschen drücke, geht die Tür auf. Die Frau, die in wenigen Wochen 70 wird, öffnet mir mit einem herzlichen, offenen und zugleich bescheidenen Lächeln die Tür. Ihre kurzen schwarzen Haare betonen ihren sportlichen Typ – Jeans, weißes Hemd und eine schlichte rosafarbene Strickjacke. Wir treten in einen aufgeräumten Flur, in dem ein Strauß frischer Tulpen steht. An den Wänden hängen gerahmte Familienfotos mit Kindern und Enkeln, Erinnerungsstücke von Reisen und ein kleines Bild mit Bonhoeffers Text „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Im lichtdurchfluteten Wohnzimmer setzen wir uns mit Kaffee an einen großen runden Esstisch. Der Blick fällt direkt in den Garten.
„Ja, das Grundgesetz und ich werden bald 70. Das heißt, das Grundgesetz 12 Tage nach mir“, sagt Elisabeth Steincke lächelnd. Geboren wurde sie am 11. Mai in Leck in Nordfriesland. Später zogen ihre Eltern nach Heide, wo sie bis heute lebt. Ihr Vater war über die CDU in der Kommunalpolitik aktiv. Sein Leitspruch „Wenn man was will, muss man auch mitmachen.“ Auch ihr späterer Mann war in der Kommunalpolitik. „Über Politik wurde und wird bei uns viel gesproch und es wird diskutiert“, erzählt sie. Als Zuhörer merkt man schnell, ihr umfangreiches Wissen sowie ihr differenzierter Blick auf das politische Geschehen sind bestechend.
Elisabeth Steincke trat früh in die CDU ein. Aus heutiger Perspektive nennt sie es „die brave Tochter“. Aber sie findet es noch immer richtig, in der CDU zu sein. Auch wenn sie hin und wieder denkt, sie könne jetzt auch mal Grün wählen. „Ich bin außerdem eine große Gewerkschafterin und früh eingetreten. Auch wenn das nicht zur CDU passt“, sagt sie lachend. Ihre Enkel ermuntert sie ebenfalls, in eine Gewerkschaft zu gehen.
„Ich habe ziemlich früh mitbekommen, dass wir in einem guten Staat leben.“
Elisabeth Steinckes Vater kam gebürtig aus Thüringen. Regelmäßig besuchten sie ihre Verwandtschaft; zunächst in der Ostzone, später dann in der DDR. „Als Kind wusste ich natürlich auch nicht, dass es ein Grundgesetz gibt. Aber ich habe ziemlich früh mitbekommen, dass wir in einem guten Staat leben.“ Schon als kleines Mädchen erlebte sie die Grenzkontrollen, die sich ihr einprägten. „Wenn wir zu Besuch waren, wohnten wir bei meinen Großeltern. Manchmal sagten sie, ich solle leise sein. Da unten stünde der Hannes und der sei bei der Stasi.“ Das war als Kind bedrückend, erinnert sie sich. „Ich war immer froh, wenn wir die Grenze überschritten hatten und wieder im freien Westen waren.“ Später wird sie auch ihren Kollegen von diesen Erfahrungen erzählen. Vor allem denen, die nie selbst in die DDR fuhren.
„Ich habe es immer so gesehen, dass der Staat es als Fürsorge ausübt.“
In den 1960er Jahren studierte Elisabeth Steincke Deutsch und Musik auf Lehramt. 1973 trat sie in den Schuldienst. 40 Jahre unterrichtete sie in Dithmarschen. Sie war immer gerne Lehrerin. Im Unterricht hatte sie mit dem Grundgesetz nicht unmittelbar etwas zu tun. Trotzdem tangierte es auf die eine oder andere Weise immer wieder ihren Schulalltag. Schon, weil es im Artikel 7 (1) des Grundgesetzes heißt: ‚Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.‘
„Ich hatte Kollegen, die sehr gegen alle staatliche Einmischung waren. Dabei habe ich es immer so gesehen, dass der Staat es als Fürsorge ausübt. Ich habe es auch gar nicht anders erlebt. Ich konnte, wenn ich mich an den Lehrplan hielt, machen was ich wollte. Und der Lehrplan war sehr weit gefasst.“ Sie vergleicht dies mit der Situation in der DDR, wo es für jede Stunde einen fertigen Plan gab. „Insofern waren wir als Lehrer immer frei“, erinnert sie sich. Rückblickend sagt Elisabeth Steincke selbstkritisch, einige Schieflagen in der Schule erst zu spät erkannt zu haben. Zum Beispiel, als sie Anfang der 70er Jahre an die Schule kam. In der Abschlussklausur Deutsch wurde das Thema gestellt ‚Sollten Frauen berufstätig sein?‘. „Das sollten die Schüler erörtern, obwohl im Grundgesetz die Gleichstellung von Mann und Frau betont wird“, erzählt sie lachend. Sie habe es brav mitgemacht. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis sie merkte, so geht es nicht. Später diskutierte sie mit ihren Schülern im Unterricht das Thema ‚Sollten Männer berufstätig sein?‘.
„Ich habe mir vorgenommen, alle Enkelkinder mit dem Grundgesetz zu belästigen.“
Elisabeth Steincke und ihr Mann wurden über die Jahre zum Herzstück einer großen Familie. Drei Kinder, zehn Enkelkinder. In ihrem großzügigen Wohnzimmer finden viele Familienfeste statt. Die Kinder und Enkelkinder gehen ein und aus – Spieleabende, Fußball gucken, Hausmusik, Grillen, Hausaufgabenbetreuung … Und wie hält es die junge Generation mit dem Grundgesetz? „Meine Kinder haben in der Schule das Grundgesetz überhaupt nicht kennengelernt. Das ist mir damals auch nicht richtig aufgefallen. Während meine Enkelkinder alle irgendwann mal mit dem Grundgesetz kamen. Sie fanden das ätzend, weil sie nun für einen Test lernen mussten.“ Gemeinsam nahmen sie einige Punkte des Grundgesetzes unter die Lupe. Sie erzählte ihnen ihre eigenen Geschichten, z. B. von den Reisen in die DDR. „Seitdem habe ich mir vorgenommen, alle Enkelkinder mit dem Grundgesetz zu belästigen“, sagt sie und lacht über sich selbst. Außerdem hat Elisabeth Steincke sich für ihre Enkel eine Eselsbrücke für das Grundgesetz ausgedacht: „Sie müssen wissen, dass ich, ihre Oma, 1949 geboren wurde. Und sie haben einen Cousin bzw. einen Bruder, der am 23. Mai geboren ist. Das wird verbunden.“
Es braucht Menschen, die das Grundgesetz auch umsetzen
Im Laufe ihres Lebens machte Elisabeth Steincke die Erfahrung, das Grundgesetz allein reiche nicht. Es muss auch umgesetzt werden. Unter anderem brachte sie ein Film über Elisabeth Selbert darauf. Ihr ist der Gleichstellungartikel von Mann und Frau im Grundgesetz zu verdanken. Aber bis die Gleichstellung auch in der Gesellschaft eine Rolle spielte, dauerte es noch viele Jahre.
Elisabeth Steinke erinnert sich: „1973 war ich fertige Lehrerin mit einem guten A13 Gehalt. Ich hatte meine erste eigene Wohnung und wollte mir eine Waschmaschine kaufen. Im Laden sagten die Verkäufer mir ‚Wir brauchen jetzt noch die Unterschrift ihre Mannes‘. Ich war so verblüfft. Denn ich hatte genug Geld, aber keinen Mann. Ich war geschieden und hatte zwei Kinder“, sie schüttelt sich vor Lachen. Heute ärgert sie sich, im Laden nicht gleich ihre Meinung gesagt zu haben. Doch unter anderem daran wurde ihr bewusst, dass die Umsetzung des Grundgesetzes ins bürgerliche Gesetzbuch oder ins Strafrecht erst spät erfolgt ist. Und sie schlussfolgert: „Es bedarf trotz dieses wunderbaren Grundgesetzes immer der Menschen, die es auch in die Tat umsetzen“.
Lieblingsartikel?
Da muss sie nicht lange überlegen. Artikel 1 ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘. „Man kann es in dieser Einfachheit nicht besser ausdrücken“, schwärmt sie. „Das kann jeder erfassen. Da muss man kein intellektueller Überflieger sein.“ Besonders wichtig ist ihr, dass es heiß: „ ‚des Menschen‘ und nicht ‚des Deutschen.‘“
Das Grundgesetz feiern und dafür kämpfen
Am 23.5.2019 feiert Elisabeth Steincke den Geburtstag ihres Enkels und des Grundgesetzes. Den Festakt wird sie sich gemeinsam mit ihrem Mann im Fernsehen anschauen. „Man kann keine bessere Veranstaltung haben. Leider hat man nicht das Glück dabei zu sein.“ Wie sie überhaupt viel und gern Bundestagsdebatten live im Fernsehen verfolgt. Auch neben der Küchenarbeit. Schließlich wolle sie wissen, was im Bundestag entschieden wird und was mit ihr geschieht. „Das geht mich etwas an“, sagt sie. Und sie hoffe, dass es noch ganz lange bleibt. Was denn bleiben soll? „Wenn ich die Bundestagsdebatten sehe und manche Parteien bestimmte Parolen verbreiten, dann habe ich schon das Gefühl, man muss für das Grundgesetz kämpfen. Das ist eine ständige Aufgabe und man kann sich nicht ausruhen.“
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