Demokratiegeschichten

Buchempfehlung: Ein andauernder Streitfall, der Beteiligung erfordert

Angesichts der zahlreichen Krisen, mit denen sich die Demokratie derzeit konfrontiert sieht, ist das Bedürfnis vieler Menschen, „etwas tun“ zu wollen, mehr als nachvollziehbar. Die Erkenntnis, dass es keinen Katalog an Handlungsanweisungen gibt, die sich schnell anwenden lassen und sofort ist die Demokratie gerettet, ist hierbei zwar ernüchternd, aber notwendig.

Auch der Historiker Friedrich Kiessling und der Jurist Christoph Safferling liefern mit Der Streitfall. Wie die Demokratie nach Deutschland kam und wie wir sie neu beleben müssen zwar keine Rundumlösung zur Rettung der Demokratie. Aber sie bieten einen geschichtlich argumentierenden Ratgeber, welche Herangehensweisen hilfreich sein können, wenn man die Demokratie bewahren möchte.

Zum einen betonen die Autoren, dass die Gründung der Bundesrepublik Deutschland nur langfristig erfolgreich war, weil sie an vorhandene demokratische Traditionen in der deutschen Geschichte anknüpfen konnte. Entsprechend müsse ein Blick auf die Geschichte unserer Demokratie früher ansetzen als 1949. Außerdem möchten die Autoren hiervon ausgehend den gegenwärtigen Zustand unserer Demokratie beleuchten und sich Gedanken darüber machen, wie es mit ihr in Zukunft weitergehen könnte.

Politische Versammlung in Berlin (1848). Quelle: gemeinfrei

Rückblicke

In Teil I („Rückblicke“) hangeln sich die Autoren entlang verschiedener (demokratischer) Schlagwörter vor: Parlamente, Wahlen, Zivilgesellschaft, Bürokratie und Verwaltung, Presse und Öffentlichkeit, Rechtsstaat, Feinde. In den meisten Fällen gingen deren Ursprünge bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Richtigerweise betonen Kiessling und Safferling dabei, dass es aber immer auch Phasen des Stillstands oder gar des Rückschritts gab. Außerdem verstanden Menschen unter den verschiedenen Begrifflichkeiten nicht zu allen Zeiten im Detail dasselbe.

Die einzelnen Unterkapitel des Abschnitts „Rückblicke“ erzählen dabei in der Regel die Geschichte von der Entstehung dieser (demokratischen) Elemente bis zu ihrem Zustand in der Weimarer Republik bzw. im „Dritten Reich“, manchmal werfen sie auch schon einen ersten Blick auf die frühen Jahre der westdeutschen Bundesrepublik. Dem könnte man nun eine gewisse Teleologie vorwerfen, angesichts des transparent formulierten Anspruchs, die gegenwärtige Bundesrepublik und ihre Wurzeln zu verstehen, liefe dies allerdings ins Leere.

Fundamente

Der zweite Teil des Buches („Fundamente“) beschäftigt sich anschließend mit den Grundlagen, auf denen die westdeutsche Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg aufbaute. Die einzelnen Kapitel sind entsprechend konkret und weniger stichwortartig wie im ersten Abschnitt: von „Wiederaufbau der Länder“ über „Parlamentarischer Rat“ und „Das Bundesverfassungsgericht“ bis hin zu „Das Grundgesetz und Europa“.

Die demokratische Verfassungsfeier am 11. August 1929 in Berlin. Quelle: Bundesarchiv, Bild 102-08215 / CC-BY-SA 3.0

Einerseits weisen die Autoren Kiessling und Safferling stark auf die positiven demokratischen Traditionen in der deutschen Geschichte hin, an die bei der (erfolgreichen) Gründung der Bundesrepublik angeschlossen werden konnte. Andererseits verschweigen sie in diesem Kapitel aber keineswegs diejenigen Aspekte der bundesrepublikanischen Entstehungsgeschichte, die als gescheitert oder wenigstens als ambivalent eingeschätzt werden müssen. Dazu gehören beispielsweise die anfänglich nicht sehr große Begeisterung für das Grundgesetz und seine neue politische Ordnung oder auch das Versagen der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz beim Umgang mit NS-Verbrechen.

Die Themen Justiz, Recht und Gesetzgebung sind in Der Streitfall generell im Vergleich zu anderen demokratiegeschichtlichen Werken auffallend präsent. Dies sollte angesichts des Autorenduos auch nicht wirklich überraschen und ist per se nichts Schlechtes. Als geschichtsaffine Leser:in sollte man sich aber darauf einstellen, mehr Artikel und Paragrafen als üblich um die Ohren gehauen zu bekommen.

Ausblicke

Im letzten Teil III („Ausblicke“) thematisieren Kiessling und Safferling schließlich die aus ihrer Sicht drei größten, aktuellen Herausforderungen der Demokratie:

  1. die andauernde Revolution im Bereich Medien und Kommunikation
  2. die Globalisierung
  3. eine Krise der demokratischen Repräsentation

Kurz werden dabei die drei Problemfelder zunächst umrissen, wobei viele der Entwicklungen in diesen Bereich zwar nicht neu oder ohne historische „Vorläufer“ seien, sich aber in der Gegenwart um ein Vielfaches verstärkt darstellten. Die daran anschließenden Ratschläge richten sich zwar in ihrer Formulierung an die gesamte Gesellschaft, doch können die meisten von ihnen von jedem und jeder einzelnen Lesenden im Kleinen umgesetzt werden.

Faksimile des Grundgesetzes von 1949. Quelle: Theodor-Heuss-Haus Stuttgart, gemeinfrei

Dies erfordert jedoch eine grundlegende Bereitschaft zu akzeptieren, dass man damit als Individuum nicht von heute auf morgen die Demokratie retten wird. Vielmehr geht es dabei um eine grundlegende Geisteshaltung, wenn die Autoren beispielsweise „Selbstbewusst auf die eigenen demokratischen Fundamente blicken“ oder „Herausforderungen der modernen Kommunikation annehmen“ vorschlagen.

Hier ist mit Blick auf die einzelnen Vorschläge zwar nichts radikal Neues dabei, aber die Zusammenstellung ist in ihrer Form sehr eingängig, nachvollziehbar und übersichtlich. Sie hat durchaus Potenzial, die Art des Diskurses nicht nur im eigenen Umfeld stark zu bereichern.

Die Sache selbst in die Hand nehmen

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Quelle: Rainer Lück, CC BY-SA 3.0 DE DEED

Friedrich Kiessling und Christoph Safferling schaffen es, ohne übertriebenen Pathos vor Augen zu führen, was für ein Glück es bedeutet, im demokratischen Deutschland zu leben. Dabei verschweigen sie aber zu keinem Zeitpunkt, dass das Projekt „deutsche Demokratie“ noch lange nicht vollendet ist. Vielmehr gibt es einige offensichtliche und noch mehr nicht ganz so offensichtliche Baustellen, an denen es weiterhin zu arbeiten gilt.

In vielerlei Hinsicht ist Der Streitfall eine typische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Andererseits aber eben auch nicht, auch da das Buch nicht strikt dem chronologischen Ablauf der Ereignisse folgt, selbst wenn dies die dreiteilige Grundstruktur zunächst andeutet. So überschneiden und kreuzen sich die zeitlichen Ebenen in allen Kapiteln. Dies macht Verzahnungen, aber auch Reibungspunkte von Vergangenheit, Gegenwart und (möglicher) Zukunft deutlich. Vollständig voneinander zu trennen sind diese Ebenen schlicht nie, sowohl auf kollektiver als auch auf individueller Ebene.

So enden die Autoren auch mit einer Erinnerung daran (und gleichzeitig wohl auch mit einem Appell an die Leser:innen), wer in der Demokratie letztlich die Verantwortung trägt:

„Das Volk, von dem bekanntlich alle Macht ausgeht, und das sind wir alle, so unterschiedlich wir auch sind. „

Der Streitfall, S. 245
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Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

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