Demokratiegeschichten

Buchempfehlung: Der Duft der Kiefern – War mein Opa Nationalsozialist?

Zur Etablierung einer Demokratie gehört auch zwingend die Aufarbeitung der nicht demokratischen Vergangenheit. Dies gilt möglicherweise für wenige Fälle so eindeutig wie für die Bundesrepublik Deutschland und ihre Bürger:innen. Sie setzen sich bis heute mit den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinander – und müssen dies auch zwingend weiterhin tun.

Deutsche Vergangenheitsaufarbeitung

In der neu gegründeten Bundesrepublik der 1950er Jahre wird zunächst in den meisten Familien nicht über die eigene Verantwortung gesprochen. Es gehört sich in weiten Kreisen einfach nicht, die Soldaten nach ihren Erlebnissen zu fragen. Wenn überhaupt, wird die Tapferkeit der Väter, Onkel und Brüder verklärt, die sich für eine größere Sache aufgeopfert hätten. Was für eine Sache das tatsächlich war, fällt dabei meist unter den Tisch.

Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin – Symbol der deutschen Erinnerungskultur (Quelle: K. Weisser, CC BY-SA 2.0 DE)

Die 60er und 70er Jahre sind dann eine Zeit des Wandels, der die Mauer des Schweigens zunehmend zum Wanken bringt. Nicht zuletzt die TV-Serie Holocaust trägt das brennende Problem der eigenen Verantwortung in zahlreiche deutsche Wohnzimmer. Der Staat gerät zunehmend unter Druck, einen Weg zu finden, wie angemessen mit dem schweren Erbe umgegangen werden kann.

Ab den 1980er Jahren entwickelt sich dann schließlich die öffentliche Erinnerungskultur, die heutzutage beinahe selbstverständlich erscheint und in vielen anderen Ländern als vorbildlich gilt. Mittlerweile gibt es zahlreiche Gedenkstätten an ehemaligen NS-Verbrechensorten. Unzählige Ausstellungen und Veranstaltungen an Jahrestagen erinnern an die Gräueltaten des „Dritten Reichs“. Stolpersteine finden sich in vielen Straßen deutscher Städte. Generell nimmt das Thema sowohl in der historisch-politischen Bildung, als auch im Selbstverständnis des bundesrepublikanischen Deutschlands einen zentralen Platz ein.

Meine Großeltern doch nicht!

Doch die Wahrnehmung im persönlichen Umfeld weicht davon bei vielen Menschen in weiten Teilen stark ab. Spätestens seit dem erstmals 2002 erschienenen Buch „Opa war kein Nazi“ von Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall ist klar, dass sowohl Nationalsozialismus als auch Holocaust im eigenen Familiengedächtnis einen ganz anderen Platz einnehmen – sie kommen eigentlich nicht wirklich vor.

Cover von „Der Duft der Kiefern“ (selbst erstellter Scan)

Zumindest nicht als etwas, wofür die eigene Familie irgendeine Art von Verantwortung trägt. Es scheint beinahe so, dass viele Deutsche, die die „Gnade der späten Geburt“ genießen, zu beschäftigt damit sind, sich selbst für die gelungene öffentliche Erinnerungskultur der letzten Jahrzehnte auf die Schultern zu klopfen, sodass keine Zeit dafür ist, die eigene Familiengeschichte kritisch zu hinterfragen.

Ohne Zweifel kann die Frage danach, was die eigenen Großeltern oder Eltern im Nationalsozialismus getan haben, sehr unangenehme Wahrheiten zu Tage fördern und kostet deshalb Überwindung. Dass es aber möglich ist, zeigt Bianca Schaalburg in Der Duft der Kiefern. Meine Familie und ihre Geheimnisse.  Bei der Graphic Novel handelt es sich um die autobiographische Erzählung einer sehr persönlichen Detektivarbeit in den (Un)Tiefen der eigenen Familiengeschichte.

Die Nachforschungen beginnnen

Die Illustratorin Schaalburg hat bereits zahlreiche Bücher bebildert und Comics für Zeitungen gezeichnet, Der Duft der Kiefern ist nun ihre erste Graphic Novel. Der Band ist nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2022 in der Kategorie Sachbuch und in der Jurybegründung heißt es dazu: „Der Duft der Kiefern ist […] weit mehr als ein Stück persönlicher Erinnerung – es ist ein Beitrag gegen das Vergessen.“ Denn Schaalburgs Erzählung ist natürlich auf der einen Seite einzigartig, auf der anderen Seite steht sie aber auch für viele andere deutsche Familiengeschichten.

Die Graphic Novel spielt auf mehreren Zeitebenen und springt immer wieder zwischen Gegenwart und verschiedenen Punkten in der Vergangenheit hin und her. Durch die farbliche Gestaltung der verschiedenen „Epochen“ ist aber stets deutlich, in welcher Zeit man sich befindet. Damit ist es gleichzeitig die Geschichte ihrer Familie, als auch die Dokumentation davon, wie Schaalburg diese Vergangenheit aufdeckt. Dabei muss sie feststellen, dass vieles, was innerhalb der Familie als selbstverständlich erzählt wird, zumindest so nicht stimmen kann – oder möglicherweise sogar schlichtweg gelogen ist.

Der Großvater als NSDAP-Mitglied (Ausschnitt aus „Der Duft der Kiefern“, selbst erstellter Scan)

Schaalburg findet anhand einer Fotografie heraus, dass ihr Großvater Heinrich schon 1926 NSDAP-Mitglied war. Dies wirft bei ihr sofort die Frage auf, ob er möglicherweise doch überzeugter von der nationalsozialistischen Ideologie war, als ihr bisher bekannt war. Daraufhin fängt sie zusammen mit ihrem Sohn Emile an, die eigene Familiengeschichte zu erforschen. Die beiden sehen im Landesarchiv Akten zum Großvater ein und recherchieren online, sie durchforsten alte Adressbücher und sprechen mit den Nachkommen von Zeitzeug:innen. So entsteht vor Schaalburgs Augen ein neues, ein bisher unbekanntes Bild ihrer Großeltern.

Geschichten vom Krieg

Im Sommer 1940 wird Großvater Heinrich eingezogen, mehrmals befördert und nimmt im Jahr darauf am Ostfeldzug teil. Dort ist er in Estland und Lettland stationiert. Langsam, aber sicher kommen immer mehr Zweifel daran auf, dass Großvater Heinrich nur Verwaltungsaufgaben in den besetzten Gebieten übernommen hat. Schaalburg und ihr Sohn finden zwar letztlich nicht heraus, was genau er getan hat, aber dass er mitbekommen haben muss, welche Verbrechen die Deutschen dort begingen, steht schnell außer Zweifel.

Was hat der Großvater im Krieg gemacht? (Ausschnitt aus „Der Duft der Kiefern“, selbst erstellter Scan)

Meist in alltäglichen Szenen thematisiert Schaalburg das scheinbare Paradox, dass ein Mann gleichzeitig ein liebender Vater, aber auch überzeugter Antisemit sein kann. Vor einer derartigen Erkenntnis fürchten sich vermutlich nicht wenige, die anfangen, die eigene Familienvergangenheit aufzudecken.

Für immer vergessene Lebenswege

Häufig springt die Erzählung in die Kindheit der Autorin selbst zurück und sie hinterfragt zunehmend die eigenen Erinnerungen. So behauptet etwa ihre Großmutter, dass sie überhaupt keine Jüdinnen und Juden gekannt habe und sowieso nicht politisch gewesen sei. Und natürlich hört Schaalburg von ihr dieselbe Phrase, die wohl viele andere auch hörten, die sich doch nach der Beteiligung der eigenen Eltern und Großeltern im „Dritten Reich“ erkundigten. Wir wussten von nichts.

Dass auch das kaum stimmen kann, wird Schaalburg schmerzlich bewusst. Sie findet heraus, dass ihre Großeltern in Berlin-Zehlendorf in einem Haus wohnten, aus welchem 1935 die jüdischen Bewohner:innen vertrieben wurden. Deren Namen und Schicksale stehen heute auf drei Stolpersteinen vor ebenjenem Haus: Clara Hipp, Carl Loewensohn und Margarete Silbermann werden alle im Holocaust ermordet. Mit der Hilfe ihres Sohnes versucht die Autorin, Stück für Stück ein Bild der Leben dieser drei Menschen zusammenzusetzen. Doch an belegbare Informationen zu kommen, ist nahezu unmöglich.

Die Stolpersteine vor dem Haus der Großeltern (Ausschnitt aus „Der Duft der Kiefern“, selbst erstellter Scan)

Eine Vergangenheit, die nicht vergeht

Die fesselnde Erzählweise Schaalburgs erlaubt es den Leser:innen so gut wie nie, die nationalsozialistischen Verbrechen auszublenden. So gibt es immer wieder überraschende Schnitte, wenn etwa ein Winterspaziergang der Familie abrupt unterbrochen wird von Informationen zur Wannsee-Konferenz.

Generell bettet Schaalburg ihre verschiedenen Erzählstränge in ausreichender Weise in den historischen Kontext ein, ohne jedoch zu sehr von der eigentlichen Handlung abzulenken. Für diejenigen Leser:innen, die noch tiefer in die Materie eintauchen wollen, gibt es darüber hinaus einen umfangreichen Anhang. Dort finden sich ein Familienstammbaum, mehreren Karten und Informationen zu verschiedenen historischen Ereignissen, Persönlichkeiten und Orten.

An vielen Stellen der Erzählung wird deutlich, wie präsent die eigene Familienvergangenheit noch ist, etwa wenn die Protagonist:innen aus verschiedenen Zeiten im gleichen See baden oder im gleichen Wald spazieren gehen. Die Vergangenheit ist eben nicht eine weit entfernte Sphäre, mit der die Gegenwart nichts mehr zu tun hat.

Das schwierige Erbe der Familie (Ausschnitt aus „Der Duft der Kiefern“, selbst erstellter Scan)

Der Zweck des Erinnerns

Ebenso werden aber auch die Veränderungen in der Gesellschaft deutlich, gerade nach Ende des Zweiten Weltkriegs und während der Erzählungen Schaalburgs zur Generation ihrer Mutter. Obwohl ihre Generation explizit alles anders machen will, ist gerade durch diese gegenteilige Einstellung die altbackene Vergangenheit stets präsent. So hängen der Großvater, seine Generation und ihre Verantwortung weiterhin über der Familie, auch noch lange nach dessen Tod 1957. Genauso wie die nationalsozialistische Vergangenheit stets über den Deutschen hängen und ein Schlussstrich nicht möglich sein wird.

Der Epilog, ein Israelbesuch Schaalburgs im Jahr 2019, macht schließlich deutlich, worum es letztlich bei der Auseinandersetzung mit der möglichweise belasteten eigenen Familiengeschichte geht: um die Menschen, die im Holocaust ermordet wurden, darum, ihre Geschichte zu erzählen und ihnen Respekt zu zollen. Ein Zitat von Bundespräsident Steinmeier, beinahe versteckt auf einer der letzten Seiten des Buches, fasst diese Verantwortung der gegenwärtigen und künftigen Generationen zusammen: „Es gibt kein Ende des Erinnerns. Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte. Denn ohne Erinnerung verlieren wir unsere Zukunft.“

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Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

2 Kommentare

  1. Norbert Böhnke

    5. August 2022 - 9:20
    Antworten

    Vielen Dank für die Buchempfehlung, werde ich bestellen! Beim Thema: „War Opa Nationalsozialist?“ habe ich an Per Leo gedacht, der zuletzt das Buch „Tränen ohne Trauer. Nach der Erinnerungskultur“ (2021) veröffentlicht hat. Seine Kernthesen/Forderungen:
    1. Erinnerungskultur soll nicht der eigenen Entlastung dienen, sondern der individuellen Verantwortung. 2. Das Geheimnis der deutschen Erinnerungskultur ist ihre Kontextvergessenheit. 3. Nationalsozialismus sollte schrittweise in die eigene Lebensgeschichte integriert werden. 4. Ethos des Konkreten, Bearbeitung echter geschichtlicher Probleme. 5. Es ist möglich, mit Hitler zu leben 6. Die Klärung der eigenen Herkunft ist der Königsweg der Erkenntnis. 7. Die Befassung mit der eigenen (womöglich „braunen“) Familiengeschichte birgt das Risiko der Selbstfindung. 8. Wie Empathie mit Nachfahren der Opfer herstellen? 9. Narrative wieder der Geschichte übergeben. Wer mehr über ihn als „Nazienkel“ erfahren möchte sollte sein „Flut und Boden“ (2014) lesen.

    • Ulli E.

      8. August 2022 - 8:47
      Antworten

      Lieber Norbert Böhnke, vielen Dank für die Leseempfehlung!

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