Demokratiegeschichten

Auf die Straße gegen die Schulgesetzgebung: Eine Massendemonstration in der Kleinstadt Lingen im Emsland

Über 50.000 Menschen protestierten am 22. August 1954 gegen die niedersächsische Schulgesetzgebung. Was brachte die Menschen derart in Rage, dass sie bei widrigen Witterungsverhältnissen auf die Straße gingen, um ihre Meinung kundzutun?

Der Anlass für die Proteste

Die Teilnehmer und ganz ausdrücklich auch die Teilnehmerinnen demonstrierten gegen die Schulpolitik der SPD-geführten Landesregierung, die als Regelschule die Gemeinschaftsschule einführen wollte. Das heißt, die Kinder unterschiedlicher religiöser Bekenntnisse sollten gemeinsam unterrichtet werden. Eine rein katholische bzw. evangelische Schule sollte nur unter strengen Auflagen erlaubt sein.

Die Elternverbände, die im überwiegend katholischen Emsland stark verbreitet waren, opponierten im Vorfeld massiv gegen die eigentlich vorsichtigen Reformbestrebungen. Die katholischen Lehrer:innenvereine unterstützten die Elterninitiativen, indem sie den Elternwillen als maßgeblich für die Gestaltung der Schulform betonten. Zu einem breiten Aktionsbündnis wuchs die Protestbewegung dadurch, dass sich die Politik – und das bedeutete im Emsland bis Mitte der 1950er Jahre die CDU und das sich langsam auflösende Zentrum – und die katholische Kirche massiv einbrachten.

Protest mit breiter Basis

Bemerkenswert war auch der große Anteil an Frauen in dieser Bewegung, die bis dahin im Emsland so gut wie gar nicht politisch in Erscheinung getreten waren. Angesichts des Themas religiöse Erziehung fühlten sie sich jedoch zuständig und herausgefordert. Deshalb begannen sie, politisch aktiv zu werden.

Diese Konstellation fand ihre Entsprechung in der Zusammensetzung der Redner:innenliste. So appellierte Mathilde Knapstein als Mutter von fünf Kindern an die Eltern, neben der Erziehung zum Staatsbürger auch die zum Bürger des Reichs Gottes einzufordern. Der stellvertretene Landrat Hermann Nottberg (CDU) hob das alleinige Recht der Eltern zur Kindererziehung hervor. Die Grundsatzrede hielt der Vizepräsident des Zentralrats der Katholiken, Josef Gockeln, mit dem bezeichnenden Titel „Staatsmacht und Gewissensnot“.

Historische Begründungen

Aus heutiger Sicht wirken die Forderungen – auf dem Spruchband war zu lesen: „Konkordat ist geltendes Recht. Wir fordern Vertragstreue auch in Niedersachsen“ – rückwärtsgewandt und überkommen. Niemand würde heute eine rein katholische oder evangelische Schule fordern. Andererseits bedienten sich die Demonstrierenden bisher vor Ort nicht angewandter demokratischer Methoden, um ihren Anliegen energisch Nachdruck zu verleihen.

Gründe für das Festhalten am traditionellen Schulsystem finden sich in der Geschichte. Das NS-System hatte im  Emsland mit der Auflösung der dort stark verbreiteten katholischen Schulen für viel Verdruss und Ärger gesorgt. Knapp zehn Jahre nach dem Ende der Diktatur war dies vor Ort nicht vergessen, sondern fest im kollektiven Gedächtnis verankert. Ähnlich wie im Kulturkampf des 19. Jahrhunderts hatten die Emsländer:innen starke Vorbehalte gegen staatliche Eingriffe – besonders im sensiblen Feld der Erziehung. Hinzu kam, dass die niedersächsische Landesregierung mit dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten als sozialistisch angesehen wurde. Überdies fühlte sich die weit im Westen des Landes gelegene Region von Hannover stiefmütterlich behandelt. Dies erleichterte das Opponieren sicherlich.

So stellt die Großdemo in Lingen –  die Stadt zählte zu dieser Zeit 25.000 Einwohner:innen – ein überzeugendes Beispiel für praktizierte Demokratie dar. Die Menschen nahmen zehn Jahre nach dem Ende der Diktatur ihr verbrieftes Recht auf freie Meinungsäußerung wahr. Die inhaltlichen Forderungen wollen – zumindest aus heutiger Sicht – nicht so recht dazu passen.  Demokratisierung und Liberalisierung der Gesellschaft waren im Emsland zwei verschiedene Dinge.

Dieser überarbeitete Text ist Teil einer Arbeit zur Entwicklung der Zentrumspartei im Emsland, die im Seminar „Forschendes Lernen: Demokratiegeschichte(n) vor Ort 1900 -2000“ im Rahmen des Studiums im Alter an der WWU Münster entstanden ist. Der vollständige Text kann hier gelesen werden.

Zum Autor: Heinz Kleene ist pensionierter Lehrer und hat zur Regionalgeschichte des Emslandes bereits etliche Arbeiten publiziert.

Artikel Drucken
Markiert in:,
Über uns 

0 Kommentare

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert