In unserer Themenreihe “Stets zu Diensten” veröffentlichen wir die Berichte von (ehemaligen) Zivildienstleistenden, Freiwilligen und Menschen, die einen Wehrersatzdienst geleistet haben.
Waltraud Mann war 1972 das erste Mal als Freiwillige in Israel und kehrte immer wieder zurück. Heute lebt sie in Kassel und ist weiter engagiert dabei, junge Leute für soziale Projekte zu gewinnen. Der Bericht über ihr Projekt Sikaron kann nach wie vor beim ASF bestellt werden.
Als Senioren-Freiwillige von ASF in Israel in 2001/2 habe ich durch meine Freiwilligen-Arbeit erlebt, welch große Erweiterung ein solcher Schritt für jeden bedeutet, besonders für junge Menschen im Ausland. Eine neue Sprache, neue Kultur, sich selbst ausprobieren, gefestigte Selbstsicherheit.
Zu Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF)
Aktion Sühnezeichen Friedensdienste entsendet Freiwillige in 13 Projektländer, bereitet die Freiwilligen intensiv auf ihren Dienst vor, im Projektland Sprachunterricht, vor Dienstbeginn ca. vier Wochen Vorträge, Projektbesuche und Führungen im Land. Während des Aufenthaltes mehrmalige Seminare, nach Rückkehr nach Deutschland: Nachbereitungs-Seminar. Betreuung im Projektland von einem ASF-Hauptamtlichen. Die FW arbeiten z.B. in Schulen, helfen bei Schulaufgaben, malen oder musizieren mit den Schülern. Sie arbeitenmit Behinderten, in Elternhäusern und in Gedenkstätten.
Die Freiwilligen sind einer Arbeitskraft zugeordnet und können ihren Einsatz selbst gestalten, je nach ihren Fähigkeiten. ASF-Freiwillige treffen sich in Seminaren, sie bekommen die ASF-Projekte im Land gezeigt, hören Vorträge, haltenReferate über ihre Arbeit und ihre Erfahrungen im Land.
Sehr schnell sind sie integriert, schließen Freundschaften und erleben eine tiefe Verbundenheit mit ihremProjektland und seinen Menschen.
Da ich mehrere Freiwilligen-Gruppen in Israel miterlebt habe – auch nach meiner Freiwilligen-Zeit habe ich längere Zeiten in Israel gelebt – stellte ich nach Beendigung der Dienstzeit eine große Entwicklung der jungen Freiwilligen fest. Alle wussten danach, welchen beruflichen Weg sie einschlagen sollten und sie sagten, dass sie diese Entwicklung, wären sie zuhause geblieben, nie so erreicht hätten. Viele der Freiwilligen besuchten ihr Projektland auch nach ihrem Dienst und hielten die Verbindung mit ihren dortigen Freunden. Sie bekamen einen neuen Blick auf ihre eigene Kultur und ein besseres Verständnis für ihr Projekt-Land. Ich kann nur jedem jungen Menschen ein solchen Freiwilligen-Dienst von ganzem Herzen empfehlen.
Wie kam es zu meinem FW-Dienst als ASF-Senioren-FW?
Ab 1972 war ich immer wieder in Israel, nach meiner Dienstzeit in 1996 auch für längere Zeiten. Da meine beiden Kinder ASF-Freiwillige in Israel waren, hatte ich einen Zugang zu dem ASF-Hauptamtlichen in Jerusalem. In 1999 sprach ich mit ihm über ein Projekt, welches ASF unbedingt mit den Freiwilligen erarbeiten müsste. Nämlich, dass Überlebende der Shoah ihre Geschichten erzählen solange sie dieses noch vermögen. Eines Tages sagte mir der ASF-Hauptamtliche, da ich schon ein Vertrauensverhältnis zu Überlebenden über die Jahre hin, die ich in Israel weilte, habe, schlage er vor, dass ich mich selbst als ASF-Freiwillige bewerbe und mein eigenes Projekt durchführen solle. Von der Zentrale von ASF in Berlin kam die Zustimmung.
Wie alle jungen ASF-Freiwilligen musste ich mich bewerben, zusammen mit den anderen Kandidaten Auswahlverfahren mitmachen. Alle Freiwilligen wurden eine Woche im KZ Stutthof intensiv auf unseren Dienst vorbereitet. Vor unserer Ausreise in die jeweiligen Projektländer kamen wir nochmals für eine Woche zu thematischen Vorträgen, Gesprächen, einem Besuch in der Wannsee-Villa und einem Zeitzeugen der Shoah, zusammen.
Danach flog meine Gruppe, wir waren zehn Freiwillige, zusammen nach Israel. Nach unserer sechswöchigen Vorbereitung – dabei auch Ivrith-Sprachunterricht – begann unser Freiwilligen-Dienst.
Meine drei Projekte
Mein Hauptprojekt nannte ich „Sikaron – Erinnerung“.
Ich habe mit Überlebenden der Shoah, jungen Israelis, älteren und jungen Deutschen zunächst Interviews geführt. Danach diskutierten wir zunächst separat in den einzelnen Gruppen, z. B. warum wurde auf der jüdischen Seite und warum wurde auf der deutschen Seitenicht über die Shoah und den Nationalsozialismus gesprochen. Wir sprachen über Identität, über Erziehung auf beiden Seiten nach dem II. Weltkrieg und viele weitere Themen. Zum Schluss hatte ich alle vier Gruppen zusammengeführt. Es waren jeweils spannende drei Stunden in denen wir im intensiven Austausch viel voneinander lernten. Entstanden ist daraus ein Buch mit dem auch in Schulen gearbeitet wird.
In meinem 2. Projekt „Offene Altenarbeit“ besuchte ich Überlebende zuhause oder in Elternheimen. Ich ließ mir ihre Lebens-Geschichten erzählen – alle sprachen deutsch. Vor allem wollten sie über ihre Jugend in Deutschland sprechen. Denn sie hatten neben dem furchtbaren Erleben während der Shoah auch schöne Erlebnisse in ihrer Jugend. Wie unfassbar war und ist für sie, dass das „Kulturland“ Deutschland in einen solch unvor-stellbaren dunklen Abgrund stürzte. Außerdem diskutierten wir verschiedene Themen der Besonderheitisraelischen Lebens.
In meinem 3. Projekt kamen wir wöchentlich in einem Elternheim zu Runden-Tisch-Gesprächen zusammen. Ich erarbeitete jedes Mal ein anderes Thema über das wir dann gemeinsam sprachen. Auch hier ließ ich mir zunächst die Lebensgeschichten der älteren Israelis erzählen, und auch ich sprach von meiner Motivation, warum ich in Israel einen Freiwilligen-Dienst mache. Ich wählte z.B. das Thema Widerstand, sowohl den Widerstandauf der deutschen als auch auf der jüdischen Seite. Denn es war mir wichtig, zu vermitteln, dass es auch auf der deutschen Seite einen Widerstand gegeben hatte.
Ein anderes Thema war: Kann man auch dem Alter etwas Positives abgewinnen? Eine Teilnehmerin berichtete z. B. von ihrer Mutter, die als jüdische Offizierin in der Britischen Brigade während des II. Weltkrieges in Ägypten gedient hatte. Besonders waren die Briefe der Mutter, die diese mit dem späteren 1. Präsidenten des Israelischen Staates ausgetauscht hatte.
Ich lernte Unglaubliches von diesen wunderbaren Israelis.
Meine außergewöhnliche Begegnung
Ich möchte von der außergewöhnlichen Begegnung meines Lebens erzählen. Durch diese Begegnung habe ich erfahren, dass ich mein Projekt mit ASF in Israel unbedingt durchführen musste. Es war eine Führung, die mein Leben tief geprägt hat.
Meine erste Berührung mit der Shoah hatte ich als 5-Jährige. Es war 1941. Ich war mit meiner Mutter auf dem Kasseler Hauptbahnhof, als mitten am Tage Juden aus Kassel und Umgebung zur Deportation nach Riga verschleppt wurden.
Dieses Erlebnis hat sich tief in mich eingebrannt, fühlte ich doch als Kind, dass hier etwas Schreckliches geschah. Erklärt wurde mir damals nichts. Es war wohl mein Schlüsselerlebnis in Bezug auf die Shoah, das später zu allen weiteren Beschäftigungen mit dem Thema führte. Dieses Geschehen holte mich während meiner Freiwilligen-Zeit mit ASF in Israel wieder ein.
In meinem 2. Projekt „Offene Altenarbeit“ betreute ich die alte blinde Alice in Jerusalem. Als ich das erste Mal zu ihr nach Hause kam, fragt sie mich, woher ich aus Deutschland komme. Ich antwortete ihr, dass ich aus Kassel komme. Daraufhin sagte sie, dass sie selbst, wie auch ihre Eltern, Großeltern und viele Verwandte in Kassel gelebt hätten. Dann sagte sie, dass ihre Eltern vom Kasseler Hauptbahnhof nach Riga deportiert wurden. Beklommen erzählte ich ihr von meinem damaligen Erlebnis.
Und weiter sagte ich, dass ich von einem Kasseler Künstler eingeladen war, an einem Projekt teilzunehmen, das er mit Schülern zusammen gestaltete. Er ließ Gedenkblätter mit den einzelnen Lebensdaten der Deportierten erstellen – und wenn möglich – mit einem Foto versehen. Diese Gedenkblätter wurden um einen Stein gewickelt, und alle zusammen zu einem Gedenk-Kunstwerk an dem Gleis, an dem der Deportations-Zug damals abgefahren war, aufgestellt. Ich hatte das Gedenkblatt über Meta Oppenheim erhalten.
„Das ist Schicksal“
Als ich Alice den Namen Meta Oppenheim nannte, fing Alice an zu zittern und rief qualvoll aus: „Meta Oppenheim war meine Mutter!“ Tief erschüttert weinten wir, lagen uns in den Armen. Wie konnte das möglich sein, dass ich nichtsahnend in das Haus der Tochter von Meta Oppenheim kam! Alice rief aus: „Das ist kein Zufall, das ist Schicksal“! Da verstand ich, dass ich für meinen ASF-FW-Dienst nach Israel geführt worden bin.
Immer wieder hatte ich zuhause in Kassel mir das Gedenkblatt von Meta Oppenheim angesehen, ich konnte es einfach nicht fort tun.
Alice sagte mir, dass ihre Mutter von Riga aus weiter in das KZ Stutthof deportiert wurde. Ich war zur Vorbereitung auf meine FW-Zeit mit ASF im KZ Stutthof. Alice weiß nicht, wann und wie ihre Mutter umgekommen ist. Mit der ASF-Freiwilligen, die zu dieser Zeit im KZ-Stutthof arbeitete, nahm ich per mail Kontakt auf und bat sie, im dortigen Archiv nach Meta Oppenheim zu suchen. Leider war darüber, wie Meta Oppenheim umgekommen ist, nichts aufgeschrieben. Bei der Evakuierung des KZ’s wurden viele Häftlinge entweder erschossen oder in die nahe Ostsee getrieben. Der Vater von Alice war in Riga umgebracht worden.
Eine Freundschaft über Generationen
Diese außergewöhnliche Begegnung schenkte mir die tiefe Freundschaft mit Alice, die auf ihre Tochter- und Sohnes-Familie weitergegeben wurde. Immer wieder war ich in den folgenden Jahren bei Alice. Nach ihremTod lebte ich auch längere Zeiten mit ihrer Tochter-Familie in Alices Haus. Welch ein großes wunderbares Geschenk!
In den Jahren nach meiner Freiwilligen-Zeit legten meine Kinder und ich vor der letzten Wohnung in Kassel von Meta und Albert Oppenheim sowie dem Onkel Julius, Stolpersteine. Dazu kamen die Tochter-Familie und die Sohnes-Familie mit drei Söhnen von Jerusalem nach Kassel.
Meine Erlebnisse in und mit Israel sind so vielfältig wie ich sie hier nicht beschreiben kann. Sie begleiten mich bis heute, und ich bin tief dankbar für diese wunderbare Fügung. Sie gehört zu meiner Identität.
Wenn ihr auch noch eine Geschichte zu erzählen habt, kommentiert unter den Beiträgen oder schreibt eine Mail an info@gegen-vergessen.de.
Zuletzt noch ein Dank an Yehuda Bacon für die Erlaubnis, sein Bild als Titelbild dieses Beitrags verwenden zu dürfen!
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