Der 18. September 2014 war für mich ein besonderer Tag. Eine Mehrheit der Schotten entschied sich gegen die Unabhängigkeit ihres Landes. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich schon entschieden, dass ich für den Master zurück nach Großbritannien gehen würde und eine der Universitäten, die ich ins Auge gefasst hatte, war St Andrews in Schottland.
Mit der Universitätswahl war aber auch die Frage verbunden, in welches Land ich ziehen und wie es überhaupt heißen würde: 2015 und 2016 war das politische Thema schlechthin die Brexitdebatte. Aber für die meisten Schotten ging es auch hier vor allem um die Frage, was der Brexit für die Rolle Schottlands im Vereinigten Königreich bedeutete.
Mein Punkt dabei ist: An diesen Beispielen kann man gut erkennen, dass in den vergangenen Jahren die Frage der schottischen Unabhängigkeit stets eine gewisse Relevanz für Großbritannien und Europa hatte und viele Leute beschäftigte. In diesen Tagen ist es nicht anders und vielleicht werden wir in einigen Jahren doch die Unabhängigkeit des Landes sehen.
Die schottische Unabhängigkeitsdebatte ist aber auch eine Geschichte des politischen Wandels, der Entwicklung einer Kultur, wie auch neuer politischer Mittel. Diese Geschichte will ich Ihnen im Folgenden näherbringen.
Schottland und England
Das historische Verhältnis zwischen beiden Ländern kompliziert zu nennen, wäre eine Untertreibung. Im Mittelalter wurden die nordenglischen Grenzmarken oft durch Schotten geplündert . Andererseits war das an Bevölkerung und Wohlstand ärmere Land im Norden ein Ziel des englischen Eroberungsdrangs. Berühmt wurden die Versuche des englischen Königs Edward I Longshanks (genannt Hammer of the Scots), in den 1290er Jahren Schottland zu unterwerfen. Die Schotten leisteten unter William Wallace und ihrem König Robert the Bruce Widerstand. Auf dieser Grundlage entstand unter anderen der Film Braveheart.
Bei Bannockburn vor den Toren Stirlings konnten die Schotten 1314 die Engländer schließlich zurückschlagen und unabhängig bleiben. Ein Teil des schottischen Unabhängigkeitsmythos wurde ohne Zweifel aus dieser historischen Begebenheit genährt. Schlacht und Ort sind bis heute Symbole schottischer Eigenständigkeit geblieben.
Die Stuarts
Warum sind die Länder dann trotz dieser Konflikte zusammengekommen? Hier kamen dynastische Gründe zum Tragen. 1603 starb mit Elizabeth I die letzte Königin aus dem Haus Tudor. Für die Thronfolge musste man andere Herrscherhäuser berücksichtigen. Die älteste Schwester von Elizabeths Vater Heinrich VIII war Frau des schottischen Königs gewesen. Von ihr stammte auch der junge schottische König James VI ab, der nun als König James I zugleich König von England wurde.
Die Stuarts sind kein Kapitel der englischen Geschichte, auf das das and gerne zurückblickt. Denn in diese Ära fiel der englische Bürgerkrieg und die Könige dieser Zeit waren weniger „glanzvoll“ als die Tudors. 1688 kam es zum Sturz des zum Katholizismus konvertierten König James II in der „Glorious Revolution“. Seine Tochter Mary bildete mit ihrem Mann William das neue Herrscherpaar.
Schon im Jahr darauf kam es zu ersten Aufständen in Schottland, die James II wieder zurück auf den Thron bringen sollten. Viele weitere folgten. Diese Aufstände hatten auch einen religiösen Aspekt. Die in England dominierende anglikanische Kirche versucht noch heute, die religiösen Formen des Katholizismus und des Protestantismus in einer Staatskirche zu vereinigen. In Schottland war das aber nur schwer zu vollziehen: In den entlegenen Gegenden der Highlands war die Reformation nie angekommen und die dortigen Katholiken lehnten die Anglikaner ab. Auf der anderen Seite waren die meisten protestantischen Schotten strenggläubige Presbyterianer. Diese reformierten Protestanten empfanden die Lehrsätze der Church of England durchweg als zu „katholisch“.
Bought and sold for English gold
1702 wurde Marys Schwester Anne neue Königin. Unter ihrer Herrschaft traten die englisch-schottischen Beziehungen in eine neue Phase über. Bis zu diesem Zeitpunkt bestand zwischen beiden Länder eine Herrschaft in Personalunion. England und Schottland hatten eigene Regierungen, eigene Parlamente und eine eigene Gesetzgebung und Rechtsprechung. Dies konnte ich zum Beispiel in St Andrews daran merken, dass einer der ältesten Versammlungssäle der Universität Parliament Hall genannt wird. Hier traf sich im 16. Jahrhundert wiederholt das schottische Parlament, wenn in Edinburgh Unruhen oder Seuchen ausbrachen.
An sich hätte die Trennung bestehen bleiben können. Schottland aber kam in Geldschwierigkeiten. Das kleine Land hatte sich bei einigen Kolonialprojekten im heutigen Kanada (Nova Scotia und Neufundland) finanziell verhoben und war dem Bankrott nahe.
Die Parlamente Englands und Schottlands sahen darin eine Chance, mit einer Vereinigung der Länder das schottische Schuldenproblem zu lösen. Schottland würde anstatt einer eigenen Regierung und eines eigenen Parlamentes von nun an Abgeordnete im englischen Unterhaus haben.
Die meisten Paragraphen des Einigungsvertrages behandelten nur die finanziellen Formalitäten der Union. Daraus entstand schnell der Eindruck, dass die schottischen Lords und Commons die Freiheit des Landes an England verkauft hätten: „Bought and sold for English gold“, ein Satz, den man noch in der heutigen Debatte finden kann. Auch wenn dieser Satz in seiner Schärfe falsch ist, stimmt es schon, dass es vor allem wirtschaftliche Erwägungen waren, die die Vereinigung beschleunigten. 1707 wurden die schließlich Länder zum Vereinigten Königreich verbunden.
Die Hannoveraner kommen
Mit dem Tod Königin Annes 1714 endete die Linie der Stuarts endgültig. Der nächste protestantische Fürst in der Erbfolge war Kurfürst Georg von Braunschweig-Lüneburg, der als George I den Thron bestieg. In den nächsten Jahrzehnten kam es gerade in Schottland immer wieder zu schweren Unruhen. Die erfolgreiche Serie Outlander hat diesen Teil der schottischen Geschichte inzwischen einem breiteren Publikum bekannt gemacht.
Entscheidend war der sogenannte zweite Jakobitenaufstand Mitte der 1740er Jahre. In diesem versuchte man, den im Exil lebenden Thronanwärter Charles Stuart, genannt „Bonnie Prince Charlie“ nach England und auf den Thron zu bringen. Die Schlacht von Culloden 1746 machte diesen Aufständen ein Ende und vorerst blieb es in Schottland etwas ruhiger.
Politische Differenzen
In den folgenden Jahrzehnten vertieften sich die Gräben jedoch an anderen Stellen. Durch die literarische Arbeit von Walter Scott, Robert Burns und Robert Louis Stevenson entstand im späten 18. und frühen 19.Jahrhundert eine kulturelle Tradition, die die Eigenständigkeit Schottlands in Geschichte, Sprache und Tradition neu erfand und betonte. Das Klischee des Kilttragenden Highlanders kam in Mode. Weitere Eigenheiten entstanden in der Politik und zeigten sich im Wahlverhalten der Schotten. Schottland war eine der Herzkammern des britischen Liberalismus. Die Partei der Liberalen war hier die dominante Kraft. Es ist kein Zufall, dass William Gladstone sein politisches Comeback 1879/1880 gerade in Edinburgh startete und dort auch seinen Wahlkreis gewann.
Als die Liberalen Anfang des 20.Jahrhunderts an Bedeutung verloren und dafür die Labour Party größere Wählerschichten für sich begeistern konnte, färbte sich auch Schottland rot. So kommen beispielsweise die früheren Labour-Premierminister Tony Blair und Gordon Brown gebürtig aus Schottland. Aus diesen politischen Differenzen entstand aber auch ein Mentalitätsunterschied. Schottland ist gegenüber sozialliberaler Politik noch heute aufgeschlossener als England, in deren ländlichen Wahlkreisen die Konservativen traditionell vorne liegen.
Die SNP
Im 20. Jahrhundert nahm auch die Frage der schottischen Unabhängigkeit wieder Fahrt auf. 1934 fusionierten mehrere Pro-Unabhängigkeits-Parteien zur Scottish National Party (SNP). Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sie erste Mandate gewinnen. In den 70er Jahren begann man im großen Umfang die Erdölreserven vor der schottischen Ostküste auszubeuten. Schottland, das lange Zeit Kostengänger Englands war, trug nun maßgeblich zur britischen Wirtschaftsleistung bei. Die SNP warb dafür, dass dieses Geld auch ein unabhängiges Schottland erhalten könnte. Der Slogan „It’s our oil“ war geboren.
London reagierte: So wurde eine der entscheidenden Forderungen der SNP 1999 im Rahmen der „Devolution“ des Vereinigten Königreichs umgesetzt. Schottland erhielt wieder eine eigene Regierung, ein eigenes Parlament und die Kontrolle über die meisten Bereiche der Gesetzgebung.
Better together? Die Unabhängigkeit und der Brexit
Die Frage, wie sehr sich Schottland bzw. die schottische Bevölkerung als britisch verstanden, blieb aber weiterhin offen. Die SNP, die schon bald nach Beginn des neuen Jahrtausends zur stärksten Partei im schottischen Parlament heranwuchs, setzte sich vehement für ein Unabhängigkeitsreferendum ein. 2011 gewann die Partei bei den schottischen Regionalwahlen eine absolute Mehrheit im Landesparlament. Der konservative britische Premierminister Cameron unterstützte nun ein Referendum, setzte sich aber wie die meisten Parteiführer für einen Verbleib Schottlands im UK ein. Vor allem das Argument, dass Schottland nur dann Teil der EU bleiben könnte, so lange es auch zum Vereinigten Königreich gehörte, half, eine recht solide Mehrheit für den Verbleib zu gewinnen.
Mit der Entscheidung über den Brexit kam diese Frage ein weiteres Mal auf die Tagesordnung. 62% der Schotten votierten für den Verbleib in der EU. Kein einziges Stimmgebiet in Schottland sprach sich für den Austritt aus. Sofort begannen die Forderungen nach einem zweiten Referendum zur Unabhängigkeit, da der Hauptgrund für den Verbleib Schottlands nun nicht mehr zu gelten schien. Bisher wurde dies jedoch von der britischen Zentralregierung stets abgelehnt – bis heute.
Schottlands Vergangenheit und Zukunft
Auch in Zukunft wird die Frage der schottischen Unabhängigkeit Einfluss auf die britische Politik haben. Es ist gerade diese Mischung aus Nähe und Distanz, gemeinsamer Geschichte und gegenseitigen Vorurteilen, kultureller Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die die schottische Unabhängigkeitsbewegung lebendig hält, aber auch ihren Erfolg nicht wahrscheinlicher macht. Die Anteile von Befürwortern und Gegnern blieben bisher recht stabil.
Beachtlich ist es aber, dass sich, im Unterschied zu vielen anderen Unabhängigkeitsbewegungen in Europa und darüber hinaus, kein Gewaltpotential mehr zeigt. Aus diversen Kriegen und Aufständen wuchs im Laufe der Zeit eine demokratische Kultur, deren Auseinandersetzungen sich auf die politische Debatte und Wahlkämpfe beschränkt und die in ihren guten Zeiten die bestehenden Unterschiede aushält. Schließlich ist die Geschichte Schottlands im Vereinigten Königreich aber auch ein Paradebeispiel dafür, dass noch heute nationale Identitäten im Positiven wie auch Negativen eine große Relevanz haben und behalten werden. So wird es auch in Zukunft eine Frage bleiben, wie das Vereinigte Königreich, wie Deutschland und wie Europa mit Unabhängigkeitsbestrebungen und Lokalidentitäten umgehen wird.
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