Sehr oft erscheint die Zeit zwischen 1945 und 1949 wie eine Lücke in der öffentlichen Erinnerung. Über die Zeit des Nationalsozialismus gibt es gerade auch im populärwissenschaftlichen Bereich eine wahre Flut an Literatur. Und es dürfte kaum einen Tag geben, an dem mal keine Doku über Einzelaspekte der NS-Zeit im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wird. Über die Zeit nach 1949 weiß man auch etwas mehr, da mit der Ära Adenauer zumindest der Wiederaufbau des Westteils Deutschlands begann, das Wirtschaftswunder einsetzte und Deutschland immer mehr in das Konzert der Völker zurückkehrte. Es sind positive Dinge, an die erinnert werden kann, oder aber negative Entwicklungen, die auch heute noch angeprangert werden und polarisieren. Mit den Jahren dazwischen können wir meist nur einige Schlagwörter verbinden, wie zum Beispiel „Stunde Null“, „Trümmerfrauen“, „Luftbrücke“, oder „Währungsreform“.
Dieses Ausblenden der vier Jahre zwischen Kriegsende und Grundgesetz ist schon deshalb bedenklich, da in dieser Zeit so viele entscheidende Weichenstellungen für die folgenden Jahre und Jahrzehnte getroffen wurden. Verbunden sind diese Entscheidungen mit Männern und Frauen, die oft in der späteren großen Politik keine wichtigere Rolle mehr spielen sollten. Diese sind meist völlig vergessen. Zum Glück ist es eine der großen Leistungen und Ziele dieses Blogs und des Vereins Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V., auch gegen dieses Vergessen anzugehen. Ein Mann, der sich sowohl in dieser Frühzeit der deutschen Nachkriegspolitik hervortat und sich gleichzeitig schon in den 40ern und 50ern gegen das Vergessen der Leistungen der späten 40er einsetzte, war der CDU-Politiker Leo Schwering.
Das Leben im Kaiserreich und in der Weimarer Republik
Leo Schwering kam im Jahr 1883 in Köln zur Welt. Seine Familie entstammte dem Bildungsbürgertum. Sein Vater Karl war Mathematiker und Lehrer und stieg zum Direktor des traditionsreichen Kölner Apostelgymnasium auf, wo Leo Schwering auch sein Abitur machen sollte. Nach dem Abitur immatrikulierte sich Schwering an der Bonner Universität und studierte dort Philologie, Geschichte und Erdkunde. 1907 schloss er seine Promotion ab. Schließlich fand er seine Berufung im gleichen Feld wie sein Vater und wurde 1911 Lehrer an einem Kölner Gymnasium.
Abgeordneter und Funktionär im Volksverein für das katholische Deutschland
Gleichzeitig schickte sich Schwering aber auch an, in der Presse der katholischen Zentrumspartei zu schreiben und in der politischen Verbandsarbeit aktiv zu werden. Bereits 1912 wurde er Vorsitzender der Kölner Sektion des Volksvereins für das katholische Deutschland. Dieser heute nahezu unbekannte katholische Massenverband war de facto der Dachverband der katholischen Verbände in Deutschland und hatte vor Beginn des Ersten Weltkriegs über eine Million Mitglieder. Besonders stark war er im Rheinland und in Westfalen vertreten. Die Tätigkeit im Volksverein passte wiederum sehr gut zu Schwering, da die Hauptaufgabe des Vereins in der Aus- und Weiterbildung seiner Mitglieder bestand. Diese sollten dann die Arbeit der lokalen katholischen Vereine, aber auch der christlichen Gewerkschaften unterstützen.
Die inoffizielle Funktion des Volksvereins war es aber, ein Personalpool für die katholische Zentrumspartei zu sein. Das Zentrum zeichnete sich bis in die 1920er Jahre als eine Honoratiorenpartei aus, die nur über verhältnismäßig wenige Mitglieder verfügte und ihren Einfluss über angegliederte oder ihr nahestehende Organisationen geltend machen konnte. Viele Politiker der Zentrumspartei hatten sich ihre politischen Sporen im Volksverein verdient und hielten diese Verbindung aufrecht. Der langjährige Vorsitzende der deutschen Zentrumspartei, Reichskanzler Wilhelm Marx, war zugleich Vorsitzender des Volksvereins.
Somit überrascht es nicht, dass auch Schwering eine politische Karriere begann. 1921 wurde er in den preußischen Landtag gewählt und behielt dieses Mandat bis zu einer missglückten Wiederwahl im Jahr 1931. Im preußischen Landesparlament kümmerte er sich hauptsächlich um Fragen der Bildungspolitik, blieb dabei aber stets in der zweiten Reihe der Fraktion.
Das Überleben in der NS-Zeit
Nach dem Ausscheiden aus dem Parlament ging er nun Vollzeit zurück in den Schuldienst. Seine Mitgliedschaft in der Zentrumspartei sollte ihm aber noch zum Verhängnis werden. Im Jahr 1934 wurde er schließlich von der nationalsozialistischen Regierung aus dem Schuldienst entfernt. In den darauffolgenden Jahren musste er, wie viele andere frühere Zentrumsfunktionäre auch, versuchen, sich mit verschiedenen Tätigkeiten über Wasser zu halten, so zum Beispiel als Herausgeber einer Zeitung oder als Nachhilfelehrer. Es war die Unterstützung des Kölner Kardinals Schulte und seines Nachfolgers Frings, die es ihm ermöglichte, sich in Pfarreien und religiösen Vereinen durch das Halten von Vorträgen etwas hinzuzuverdienen.
Die Nationalsozialisten ließen ihn nach seiner Entlassung weitestgehend in Ruhe. Das sollte sich erst ändern, als nach dem gescheiterten Umsturzversuch im Sommer 1944 die Sicherheitsbehörden nach Verschwörerkreisen und anderen Mitwissern suchten. Schwering war kein aktiver Widerständler gewesen, stand aber mit verschiedenen Mitgliedern des christlichen Widerstandes in Kontakt. Er wurde verhaftet und blieb bis Ende des Krieges ein Gefangener der Gestapo auf dem zum Gefängnis umfunktionierten Messegelände Köln.
Die Gründung der CDU und der Walberberger Kreis
Schon wenige Monate nach Ende des Krieges engagierte sich Schwering bei der Gründung einer christdemokratischen Partei in Köln, die noch CDP genannt wurde. Schwering wurde zum ersten Vorsitzenden der rheinischen Landespartei gewählt – ein Amt, in dem ihm schließlich Konrad Adenauer folgen sollte. In diesen Monaten nahm er häufig an den Zusammenkünften verschiedener Politiker, Gewerkschaftsvertreter und Kirchenmännern teil, die im Dominikanerkloster in Walberberg an der Programmatik einer neuen christlich-demokratischen Partei arbeiteten. Der Einfluss, den Walberberg auf den frühen linken Flügel der Union haben sollte, lässt sich kaum überschätzen. Auch auf der Grundlage dieser Debatten entstanden die Kölner Leitsätze, quasi das erste rudimentäre Grundsatzprogramm der Rheinischen Union.
Der politisch linken Programmatik des Walberberger Kreises stimmte Schwering zu. Für ihn sollte die Union eine Partei der politischen Mitte sein, die auch nach links hin zur Zusammenarbeit bereit war. Eine der wesentlichen Ideen dieses Kreises lag im „Christlichen Sozialismus“. Einem recht vagen Begriff, der aber die Differenzen überwinden sollte, die beispielsweise die christlichen Kirchen von der Sozialdemokratie trennten. Auf der Basis der katholischen Soziallehre und der evangelischen Ethik sollte eine Politik betrieben werden, die auch planwirtschaftliche Züge haben konnte und die insbesondere umfangreiche Verstaatlichungen des Grundbesitzes und der Grundlagenindustrie vorsah.
Die weitere politische Laufbahn
Für eine längere Karriere an der Spitze fehlte ihm aber der dazu nötige Ehrgeiz und das Durchsetzungsvermögen. Schon früh versuchte er, andere ehemalige Zentrumsvertreter für die Christdemokratische Partei zu gewinnen. Wichtig war ihm die Mitwirkung des Kölner Oberbürgermeisters und früheren preußischen Staatsratsvorsitzenden Konrad Adenauer. Es war auch Schwerings Engagement zu verdanken, dass Adenauer nach seinem Rauswurf als Oberbürgermeister Ende 1945 wieder stärker in Fragen der Parteipolitik aktiv wurde.
Auf politischer Ebene wäre damit die Geschichte Schwerings nahezu auserzählt. Adenauer mischte sich immer weiter in die Leitung der CDU im Rheinland ein und übernahm schließlich durch eine Kampfabstimmung im Februar 1946 den Vorsitz des rheinischen Landesverbandes. Bis 1958 blieb Schwering Mitglied des Nordrhein-Westfälischen Landtags, bis er sich aus der Politik weitestgehend zurückzog. Inhaltlich waren er und seine Verbündeten vom linken Flügel gescheitert. Die CDU sollte nicht die Mitte-Links-Partei werden, als die sie ursprünglich von vielen erdacht worden war. Das Thema „Christlicher Sozialismus“ spielte schon Ende der 40er Jahre keine Rolle mehr in ihrer Programmatik.
Hofhistoriker der frühen Union
Aus dem Politiker Schwering wurde immer mehr der Historiker Schwering. Als zentraler Akteur der Anfänge der Union übernahm es Leo Schwering, die Frühgeschichte der CDU niederzuschreiben. Schon 1952 war sein erstes Buch zur Geschichte der Partei herausgekommen. Thema war die Zeit 1945/1946. Also die Jahre, in denen er selbst Einfluss auf die Geschichte der Partei nehmen konnte. Dafür nutzte er Material, das er selbst während seiner Parteikarriere gesammelt hatte. Außerdem tauschte er sich mit Zeitgenossen und Weggefährten darüber aus. Noch heute sind umfangreiche Briefwechsel erhalten, in denen Schwering über seine Arbeit und die von ihm gehaltenen Vorträge berichtet.
Bei der wissenschaftlichen Arbeit Schwerings fällt es heute schwer, moderne akademische Maßstäbe heranzuziehen. Bei seinen Texten versuchte er keinesfalls, Geschichtsklitterung zu betreiben. Dennoch ist klar, dass er mit seinen Publikationen einen Zweck verfolgte. Er fürchtete das Vergessen dieser (aus seiner Sicht) historischen Leistung der frühen Nachkriegsgeneration. Diese baute Deutschland nicht nur wieder auf, sondern trug auch dazu bei, dass es geistig wieder zusammenwuchs. Man kann davon ausgehen, dass er diese Möglichkeit nutzte, um seine eigene Leistung noch einmal hervorzuheben.
Dabei versuchte Schwering insbesondere auf ein Thema einzugehen, was Kernbestandteil der Gründungserzählung der Union war, heute jedoch in seiner Bedeutung kaum noch verstanden wird: Das Zusammengehen der beiden Konfessionen. Schon in der Einleitung seines Buches über die Anfänge der Union stellte Schwering heraus, dass es die große Leistung der Union gewesen sei, eine konfessionsübergreifende Partei zu gründen, damit den Schatten der alten Zentrumspartei hinter sich zu lassen und die Gefahr einer neuen Zentrumspartei zu bannen. Eine starke Zentrumspartei hätte zu einer noch stärkeren Spaltung des christlich-demokratischen Milieus geführt. Anstatt als Block zu agieren, hätten sich die Parteien gegenseitig geschwächt. Die Auseinandersetzungen zwischen der frühen CDU und dem schon damals deutlich schwächeren neuen Zentrum zeigen das Spannungspotential, welches zwischen den christlichen Parteien bestand.
Lebensende und weitere Bedeutung
Seine letzten Jahre verbrachte er in seiner alten Heimatstadt Köln. Die Öffentlichkeit suchte er kaum noch. Schwering starb in der Domstadt am 7. Mai 1971.
Leo Schwering war im Rückblick sicher kein politisches Schwergewicht vom Kaliber eines Konrad Adenauers oder eines Kurt Schumachers. Er steht aber dennoch sinnbildlich für eine große Gruppe an Politikern, die in der zweiten und dritten Reihe standen und an verschiedenen Wendepunkten Einfluss auf die weitere Entwicklung der politischen Parteien und ganz Deutschlands nehmen konnten. Dass wir ohne größere Schwierigkeiten diese Personen im Hintergrund noch kennen können, liegt auch an Schwering, denn ohne seine Arbeit wären sicher viele Begebenheiten dieser frühen Nachkriegsjahre vergessen, da sie an keiner anderen Stelle beschrieben wurden.
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