Doch, man kann aus der Geschichte lernen … vorausgesetzt, man will es.
Ute Daniel: Postheroische Geschichte, S. 7.
So beginnt die Braunschweiger Historikerin Ute Daniel ihren Essay „Postheroische Demokratiegeschichte“. Und bezieht damit gleich zu Anfang Position in einer Frage, die Historiker*innen seit Jahren diskutieren. Aus der Geschichte lernen: Geht das?
Laut Daniel ja. Da wäre allerdings noch das „vorausgesetzt“. Die Bedingung für historisches Lernen laute, dass man sich von der Vorstellung verabschiede, die Vergangenheit „laufe irgendwie auf uns zu“. Anders ausgedrückt, Dinge geschahen und Menschen handelten nicht, damit wir heute davon profitieren.
Auf die Demokratiegeschichte bezogen: Reformen und Prozesse geschahen nicht (unbedingt) mit der Intention, Politik und Gesellschaft zu demokratisieren. Zwar gab es mutige Frauen und Männer, die sich in Wahlrechtskämpfen und Protestbewegungen einsetzten. Doch ihr Einfluss auf die Politik des 19. Jahrhunderts sei gering gewesen. Es waren andere Probleme, die die Politik beschäftigten.
Post-Heroisch
Die Vorstellung, wir seien quasi Verwalter eines demokratischen Erbes, erkämpft von Generationen, hilft uns also nicht weiter. Wo wir nachhaken müssen, so Daniel, sind die Probleme, die die politische Praxis in der Zeit beschäftigen.
Im 19. Jahrhundert war das die Frage danach, wie man im Zeitalter der Parlamente stabile Regierungen bilden konnte. Anhand von zwei „Kipppunkten“ beschreibt Daniel, wie sich Systeme von einem Zustand in einen neuen mit anderen Dynamiken begeben. Diese Kipppunkte liegen im Jahr 1866 im deutschen und 1867 im britischen System.
Kipppunkt – Deutschland 1866
Deutschland 1866: Otto von Bismarck, konservativer preußischer Ministerpräsident, kündigt für den Norddeutschen Bund das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht an. Ein Schritt, an dem die Revolution von 1848/49 gescheitert war. Und den konservative Politiker wie Bismarck und Monarchen jahrelang zu unterdrücken versuchten.
Doch Bismarck handelt wohl überlegt: Er will Preußen in eine aussichtsreiche Position für eine spätere Reichsregierung bringen. Diese Reichsregierung soll außerdem ein zentrales Parlament haben. In dem zukünftig nach einfachen Mehrheitsentscheiden beschlossen wird. Das Vetorecht der Fürsten, mit dem diese bis dato Entscheidungen blockieren konnten, fiele demnach weg. Gleichzeitig ging er davon aus, durch die Erweiterung des Wahlrechts die Liberalen zu schwächen.
Wie sich zeigte, hatte sich Bismarck verkalkuliert. Das reformierte Wahlrecht führte zu einem größeren Parteispektrum und machte insbesondere zwei Parteien stark: Die katholische Zentrumspartei und die Partei der Sozialdemokratie. Gegen beide Parteien führte Bismarck in späteren Jahren heftige Repressionen ein. Doch insbesondere die Sozialdemokratie ging aus diesen Auseinandersetzungen gestärkt hervor.
Kippunkt – England 1867
In England regierte 1967 die konservative Minderheitsregierung von Lord Derby. Bis dahin hatte sie noch kein Gesetz durchgebracht und sah sich zunehmend unter Druck gesetzt. Die Wahlrechtserweiterung wurde Gegenstand dieses Vorhabens, weil sich alle politischen Seiten darüber einig waren, dass diese notwendig sei.
Weil jedoch eine Minderheitsregierung den Entwurf einbrachte, war die Durchbringung durchs Unterhaus kompliziert. Die Konservativen mussten an einigen Stellen Zugeständnisse machen, die nicht vorhergesehen machen. Und: Sie machten Zugeständnisse, die sie nicht gemacht hätten, nur, um das Gesetz irgendwie durchzukriegen – denn davon hing ihre Regierungsfähigkeit ab.
So kam es, dass Änderungen durchgeführt wurden, die viel weitreichender waren, als ursprünglich geplant. Als Folge der Reformierung erhöhte sich insbesondere die Zahl der Wahlberechtigten in den städtischen Wahlkreisen stark. Die Bildung von Regierungen, ohne das eine Wahl vorausging, wurde damit schwerer.
Bedeutung für unser Bild von Demokratiegeschichte
Beide Kipppunkte, bzw. beide Prozesse zeigen, dass eine Demokratisierung der Parlamente nicht das Ziel der Reformen war. Ursprünglich ging es darum, Regieren zu vereinfachen oder zu ermöglichen. Die Folgen waren von den jeweiligen Regierungen nicht vorhergesehen und nicht intendiert.
Neben den Kipppunkten präsentiert Ute Daniel davor und danach Kapitel: die vorangehende bzw. die nachgehende Entwicklung der Kipppunkte. Und natürlich ein Nachwort: Dies beinhaltet neben der Zusammenfassung der wichtigsten Thesen auch einen Blick aufs Heute. Prominent darin findet sich u.a. der Brexit, aber auch die Idee, den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der parlamentarischen Demokratie zum Thema zu machen. Und dass nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der heutigen Gesellschaft.
Empfehlung
Mit den Kipppunkten hat Ute Daniel zwei Punkte ausgewählt, an denen sich die Dynamik von Prozessen und die Unvorhergesehenheit von Entscheidungen eindrucksvoll veranschaulichen lassen. Anhand beider Fälle zeigt sich das Gegenüber von Regierungen und Parlament und den Einfluss, den Parteien auf diese haben (und umgekehrt).
Ob der Ansatz, Geschichte aus der Zeit (von vorne) und nicht aus unserer heutigen Perspektive (von hinten) zu betrachten so neu ist, wie Frau Daniel darstellt, darf bezweifelt werden. Schließlich gehört das Hinterfragen der Intention und der Umstände einer Handlung zum Grundwerkzeug von Historiker*innen.
Zweifelsohne tut es aber gut, immer mal wieder daran erinnert zu werden, dass wir nicht am Ende eines Weges stehen, auf den die Geschichte zuläuft. Unsere Gesellschaft und auch unsere Demokratie werden weiter Veränderungen erfahren – intendiert und unvorhergesehen. Bis dahin lernen – aus und über Geschichte – und lesen wir fleißig weiter gute Bücher – wie das von Ute Daniel.
Infos zum Buch
Ute Daniel: Postheroische Demokratiegeschichte
kleine reihe
168 Seiten, gebunden 12,99€; als E-Book 9,99€
ISBN 978-3-86854-345-2
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