Demokratiegeschichten

Jedem seine Wahrheit: Geheimdienste, Volksaufstand und Legenden

Die Serie „17. Juni“ ist ein Kooperationsprojekt des Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur mit Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Berliner Aufarbeitungsbeauftragten haben für den Blog geschrieben.


Für die SED war der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 ein schwerer Schlag. Ohne die militärische und politische Rückendeckung der Sowjetunion wäre das Ende des SED-Staates besiegelt gewesen. Die Erhebung in der DDR kam überraschend – für die kommunistischen Machthaber in Ost-Berlin ebenso wie für die politisch Verantwortlichen in der Bundesrepublik, obwohl beide Staaten bereits Geheimdienste installiert hatten. Welche Rolle spielten diese im Umfeld des 17. Juni 1953? Welche Einschätzungen lieferten sie und welche Informationsbasis hatten sie? Hatten Befürchtungen in Ost und West, durch die jeweils gegnerischen Geheimdienste unterwandert werden zu können, eine reale Grundlage? Und was für Folgen konnten solche Vorstellungen für die Menschen haben?

„Faschistischer Putsch“

Der Volksaufstand als Putschversuch: DDR-Propagandabroschüre, 1954

Der Volksaufstand belegte, dass die kommunistischen Machthaber in der DDR kaum Rückhalt hatten. Ein Großteil der Bevölkerung war sogar bereit, sich aktiv gegen sie zu stellen. Das war den Herrschenden letztlich nicht neu: Allein die Wucht des spontanen Volkszorns kam für sie überraschend. Bis dahin konnte die SED ihre Herrschaft mit Hilfe von Geheimdiensten und Polizei sichern, die gerade in den 1950er Jahren mit offenem Terror gegen tatsächliche und vermeintliche Gegner vorging. Sie alle galten in der Wahrnehmung des Herrschaftsapparates als vom Westen gesteuert. Dieser Logik folgend musste auch der 17. Juni ein vom Westen gesteuerter faschistischer Putsch sein. Es war die Aufgabe der Staatssicherheit, die dafür notwendigen Beweise zu erbringen.

„Sowjetischer Aufstand“

Die Ursachen des Volksaufstandes wurden aber auch von Einigen im Westen falsch eingeschätzt. Ähnlich wie sich die SED vor „westlichen Agenten“ fürchtete, waren in den frühen 1950er Jahren gerade in der westdeutschen Politik und Gesellschaft Unterwanderungsängste durch den Osten weit verbreitet. Das ging einher mit der Vorstellung allmächtiger und von Moskau gesteuerter Geheimdienstapparate im gegnerischen Lager. Auch diese Bedrohungsvorstellungen waren, wie wir heute wissen, deutlich überzeichnet. Zeitgenössisch ließ sich aber in solche Vorstellungen einpassen, dass der 17. Juni keine spontane Volkserhebung sein konnte, sondern ebenfalls ein gesteuerter Aufstand sein musste.

Besonders deutlich wird das im Fall des frühen Bundesnachrichtendienstes. Er hieß 1953 noch Organisation Gehlen (Org.) und war ein vom amerikanischen Auslandsgeheimdienst CIA finanziertes Unternehmen, welches die Bundesregierung in Bonn mit Lageanalysen versorgte. Es war der spätere BND, der behauptete, sämtliche Vorgänge in der DDR, angefangen von der Verkündung des „Neuen Kurses“, über die ersten Proteste und bis hin zum Volksaufstand selbst, seien eine Inszenierung Moskaus. Dort verfolge man angeblich letztlich das Ziel, die SED nur scheinbar zu entmachten, um eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten herbeizuführen und die Bundesrepublik aus dem westlichen Bündnis zu lösen.

Es besteht kein Zweifel, dass die Demonstrationen der Arbeiterschaft, zumindest in der Anfangsphase, inszeniert wurden, um damit die scheinbare Bereitschaft der Sowjets anzukündigen, den Sowjetisierungskurs zugunsten der Wiedervereinigung nachhaltig zu bremsen (…)


Lagebericht der Organisation Gehlen, 17. Juni 1953
Bundesarchiv B 206/856, Blatt 159

Fehlinformationen und Fehlwahrnehmungen

Dabei hatte die Organisation nicht einmal im Ansatz Zugänge zu den politischen oder militärischen Führungszirkeln Ost-Berlins oder gar Moskaus. Was sie berichtete war eine Mischung aus Gerüchten, Spekulationen und vor allem antikommunistischen Überzeugungen. Ihre Berichte fußten damit ähnlich wie bei der Staatssicherheit auf letztlich ideologisch verblendeten Annahmen und nicht auf belastbaren Informationen. Im Gegensatz zur SED-Diktatur hatten die Fehlinformationen aber kaum Folgen. Andere Geheimdienste analysierten die Ursachen des Aufstandes seinerzeit zutreffend. Der BND konnte sich mit seiner Auffassung nicht durchsetzen.

BND-Anweisung: sowjetische Regie des Aufstandes beweisen, 17. Juni 1953; (Dokumente der Organisation Gehlen zum Volksaufstand vom 17. Juni 1953, hg. vom BND, Berlin 2013, S. 151)

Fehlwahrnehmungen gab es also auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges. Sie waren Ausdruck der allgemeinen Agenten- und Wachsamkeitshysterie der 1950er Jahre, die durch die noch wenig professionelle Arbeitsweise von Geheimdienstapparaten befördert wurde – was fatale Folgen für die Menschen haben konnte.

Der BND und der 17. Juni 1953

Im Auftrag der SED ging die Staatssicherheit nach dem 17. Juni dazu über, die vermeintlichen Hintermänner des Aufstandes ausfindig zu machen. Die Organisation Gehlen stand dabei ganz oben auf der Liste der Verdächtigen. Die in Pullach bei München ansässige Spionageorganisation verfügte in der DDR über nahezu flächendeckende Netze von Informanten (V-Leute), was in Ost-Berlin bekannt war. Zutreffend war auch, dass die amerikanische Regierung mit Hilfe ihrer Geheimdienste aktiv Widerstandsarbeit in der DDR unterstützte. Der aus Sicht von SED und Stasi naheliegende Analogieschluss, die Org. müsse sich mit ihren Agenten am Aufstand beteiligt haben, führt aber in die Irre.

Jegliche Beteiligung an Aktionen, ja überhaupt jegliches Hervortreten unserer Mitarbeiter ist mit allen Mitteln zu verhindern. Nachrichtendienst gehört nie auf die Straße und nirgend in die Öffentlichkeit.


Auszug aus einer Anweisung an die Agenten, 17. Juni 1953, Bundesarchiv B 206/934, Bl. 106

Zentrale in Pullach

Ein Blick in die BND-Akten zeigt, dass sich das Pullacher Unternehmen an Widerstands- und Sabotageaktionen, wie sie vor allem die Amerikaner unterstützten, nicht beteiligte. Überlegungen für eigene Aktionen solcher Art blieben im Planungsstadium. Eine Beteiligung am 17. Juni ist aus zwei weiteren Gründen ausgeschlossen: Zum einen erfuhr die Pullacher Zentrale am Mittag überhaupt aus dem Radio von den Vorgängen. Bis dahin herrschte beschauliche Ruhe. Erst um 13.15 Uhr vermerkt ein interner Lagebericht: „Zentrale hat keine Zeit mehr, kleine Helle zu trinken.“

Zum anderen waren die rund 1.000 eigenen Spione grundsätzlich angehalten, sich nicht durch offenen Widerstand zu erkennen zu geben. Diese Mahnung wurde am Nachmittag des 17. Juni 1953 erneuert: Keinesfalls sollten sich V-Leute in irgendeiner Weise an Aktionen gegen die SED oder die Sowjetunion beteiligen. Die Vorsichtsmaßnahmen erwiesen sich als erfolgreich. Trotz Massenverhaftungen unmittelbar nach Niederschlagung des Volksaufstandes registrierte die Org. in den kommenden Wochen nur rund ein Dutzend Festnahmen eigener Mitarbeiter. Nur in zwei Fällen ließ sich ein unmittelbarer Zusammenhang mit den Protesten herstellen: In Rostock und Leipzig wurden zwei Funker verhaftet, deren Ehefrauen sich an Kundgebungen beteiligt hatten.

Kein Wort vom Aufstand: Funkspruch von Hans-Joachim Koch alias „Bär“, 17. Juni 1953 (Dokumente der Organisation Gehlen zum Volksaufstand vom 17. Juni 1953, hg. vom BND, Berlin 2013, S. 97)

Verhängnisvolle Zerrbilder

Bei der Bewertung des Volksaufstandes spielten eben diese Funker sowohl für die Org. als auch die Stasi eine entscheidende Rolle. Für den BND waren sie extrem wichtig, weil mit Verhängung des Ausnahmezustandes und Schließung der Grenzen in Berlin am 17. Juni der Kontakt zu nahezu sämtlichen V-Leuten in der DDR für eine Woche abriss. Informationen aus der DDR zu besorgen war dem Pullacher Dienst unmöglich – obwohl er gerade jetzt Lageberichte in Bonn vorlegen musste.

Die einzige Möglichkeit waren mit Funkgeräten ausgestattete V-Leute, von denen allerdings nur 23 in der DDR einsatzbereit waren. Zum Einsatz kommen sollten sie nur im Fall eines militärischen Konfliktes. Ihre Aufgabe war dann, über Truppenbewegungen usw. zu berichten. Bis dahin sollten sie sich möglichst unauffällig verhalten. Der totale Informationsausfall während der Aufstandstage führte zur Entscheidung, die Funker doch zu kontaktieren. Bis zum 22. Juni konnten aber nur acht erreicht werden. Was sie berichteten, war allein wegen der Kürze der Funksprüche wenig hilfreich.

Das Schicksal des Hans-Joachim Koch

Als eifrigster Funker trat der arbeitslose Schauspieler Hans-Joachim Koch in Erscheinung. Koch war 1952 angeworben und als Funker „Bär“ im Frühjahr 1953 in Betrieb genommen worden. Zufällig sollte er sich am 17. Juni planmäßig aus seiner Wohnung in Pankow melden. Als Koch in den frühen Morgenstunden funkte, wusste er vom Aufstand nichts und teilte nur mit, er habe Empfangsprobleme. Kurz nach Mitternacht am 18. Juni berichtete er fälschlich, die Grenzen seien offen und er versuche nach West-Berlin zu kommen. Am 19. Juni ließ er wissen, die Grenzen seien zu. Erst nach dreitägiger Pause gab er am 22. Juni erstmals verwertbare Informationen weiter: Sowjetische Panzer seien in Pankow gesichtet worden, angeblich zum Schutz des dortigen Regierungsviertels. Solche verspäteten und nichtssagenden Meldungen waren typisch: Der Funkeinsatz als einzige Informationsquelle während des Aufstandes galt auch in Pullach als gescheitert.

Aus der Presseberichterstattung über den Schauprozess
Neues Deutschland, 11. Juni 1955

Für die Staatssicherheit lieferte Hans-Joachim Koch jedoch willkommene Indizien, dass Pullach versucht hatte, aktiv Einfluss auf den Aufstand zu nehmen. Koch stand wahrscheinlich schon länger unter Beobachtung der sowjetischen Spionageabwehr, bevor ihn die Staatssicherheit Anfang März 1955 festnahm. Er räumte in der Untersuchungshaft ein, dass er während der Aufstandstage gefunkt hatte. Doch weder hatte er Anweisungen erhalten, noch strategisch wichtige Informationen übermittelt – sein Einsatz war völlig sinnlos gewesen. Das wusste auch die Staatssicherheit.

Der Schauprozess

Dennoch wurde Hans-Joachim Koch auf Geheiß der SED zusammen mit zwei anderen ehemaligen V-Leuten des Pullacher Dienstes kurz vor dem zweiten Jahrestag des Volksaufstandes im Juni 1955 in einem mehrtägigen Schauprozess abgeurteilt. Sein Fall ließ sich propagandistisch ausschlachten: Der während des Zweiten Weltkrieges mutmaßlich an Kriegsverbrechen beteiligte ehemalige SS-Angehörige konnte als unverbesserlicher Nazi hingestellt werden, der nun im Auftrag westlicher Geheimdienste neuerlich an Kriegsvorbereitungen beteiligt sei. Dass er gefunkt hatte, wurde in der Propaganda als Beleg für den Einfluss westlicher Geheimdienste, namentlich des BND, während des Volksaufstandes hingestellt.

Hans-Joachim Koch erhielt die Todesstrafe und wurde im Juli 1955 in Dresden hingerichtet. Das in der Presse bekannt gegebene drakonische Urteil sollte abschreckend wirken und andere DDR-Bürgerinnen und -Bürger davon abhalten, sich in den Dienst westlicher Spionage zu stellen. Diese Strategie der SED war erfolgreich: Spionage in der DDR wurde für den BND vor dem Mauerbau immer schwerer.

Die offizielle Propaganda vom „faschistischen Putsch“, wie ihn die Stasi wider besseres Wissen verteidigte, verfing hingegen nicht. Immerhin: Auch der BND machte sich angesichts der in der DDR-Presse behaupteten westlichen Einflussnahme daran, sich bei den Geheimdiensten und Widerstandsorganisationen im Westen umzuhören. Was von dort berichtet wurde, war eindeutig: Zwar sei es das erklärte Ziel gewesen, die Widerständigen in der DDR zu unterstützen. Doch weder hätte man einen Aufstand für möglich gehalten, geschweige denn ihn herbeiführen können. Von dem spontan ausbrechenden Volkszorn wurden auch die westlichen Geheimdienste überrascht – genau wie die SED und die Staatssicherheit.

Ronny Heidenreich ist Referent beim Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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