Demokratiegeschichten

Jenseits der Städte. Der 17. Juni 1953 in den Dörfern der DDR

Die Serie „17. Juni“ ist ein Kooperationsprojekt des Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur mit Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Berliner Aufarbeitungsbeauftragten haben für den Blog geschrieben.


Seit dem 12. Juni 1953 hatte es in den Dörfern der DDR rumort. Nachdem die allein herrschende Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) am 9. Juni ihren „Neuen Kurs“ verabschiedet und darin grundlegende Fehler eingestanden hatte, regte sich in den kleinen Orten alsbald Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse. Dieser richtete sich vor allem gegen die örtlichen Vertreter der Staatsmacht, und er hatte von Anbeginn zutiefst politischen Charakter. Zu den Forderungen gehörten u. a. die Absetzung der Regierung sowie die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Dieses demokratische Aufbegehren blieb vorerst auf die jeweiligen Dorfgemeinschaften beschränkt und wurde überregional kaum wahrgenommen. Als sich dann am 17. Juni 1953 die Nachricht von einem Volksaufstand im ganzen Land verbreitete, wirkte das wie ein Katalysator und hatte erkennbaren Einfluss auf die Vorgänge in den ländlichen Gemeinden.

Aufbegehren vor Ort

Jene Entwicklungen, die sich in den Vortagen in zahllosen Dörfern vollzogen hatten, spitzten sich nun weiter zu. In Milzau (Bezirk Halle) etwa griffen die Dorfbewohner zunächst den örtlichen SED-Sekretär an und zwangen ihn, an der Spitze des Protestzuges zu marschieren. Weitere Funktionäre hatten sich in einem Waisenheim verschanzt und wurden aufgefordert, auf die Straße zu kommen. Als sie sich weigerten, stürmten die Aufständischen das Gebäude, eine heftige Prügelei war die Folge. Schließlich musste der Bürgermeister, umringt von Dorfbewohnern, in eine Mistgrube springen.

Noch weiter gingen die Einwohner von Zodel (Bezirk Dresden). Dort fand ebenfalls eine Demonstration statt, die aber von Anfang an auch darauf abzielte, einen neuen Gemeinderat einzusetzen. Der kommunistische Bürgermeister wurde gezwungen, voran zu laufen, beim Marsch durch das Dorf kamen immer mehr Funktionäre hinzu, die zeitweise mit Fahnen zusammengebunden wurden. Der Vorsitzende der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft hatte zudem ein Stalinbild vor sich herzutragen. Die öffentliche Erniedrigung gipfelte darin, dass der Bürgermeister auf einen Tisch klettern musste und sein Handeln der vergangenen Monate vor der Dorfgemeinschaft rechtfertigen sollte. Wenig später wurde er für abgesetzt erklärt. Eine neue Gemeindevertretung konstituierte sich und wählte einen neuen Gemeindevorsteher.

So eindrucksvoll die geschilderten Beispiele sind, waren sie doch nur die Spitze des Eisberges. Überall herrschte Unruhe. Bis zum 21. Juni kam es in mindestens 302 Dörfern zu Widerstandshandlungen unterschiedlicher Art. Weil es vor Ort oft an repräsentativen Gebäuden der SED-Herrschaft fehlte, richtete sich die Wut unmittelbarer als in den Städten direkt gegen die Funktionäre; ihre Erniedrigung stand stellvertretend für die Auseinandersetzung mit dem politischen System und hatte zutiefst politischen Charakter. Die Wahl neuer Bürgermeister oder Gemeindevertretungen war nicht weniger als die Demokratisierung lokaler Strukturen.

Landwirte als Mitstreiter

Eine zweite Form des Protestes blieb nicht auf die Gemeinden beschränkt, sondern überschritt deren Grenzen: In vielen Fällen beteiligten sich Bauern an jenen Aktionen, die in den kleineren Städten stattfanden und zumeist von Arbeitern initiiert wurden. So forderten die Demonstranten in Rathenow (Bezirk Potsdam) unmissverständlich: „Lasst unsere Bauern frei“.

In das wenige Kilometer entfernte Premnitz marschierte ein Demonstrationszug aus dem benachbarten Dorf Milow, nachdem die Bewohner zuvor bereits die Haftentlassung des örtlichen Mühlenbesitzers erzwungen hatten. Ähnliches war aus zahlreichen anderen Orten zu vernehmen, deren Zahl letztlich nicht genau zu bestimmen ist. Doch im ganzen Land geschahen derartige Vorkommnisse, so unter anderem in Altenburg, Apolda, Bad Düben, Belzig, Delitzsch, Eilenburg, Friesack, Grabow, Gotha, Lübben und Niemegk.

Und selbst in Berlin waren Bauern unter den Demonstrierenden. Eigentlich auf der Suche nach Ersatzteilen, fanden sich in den Mittagsstunden drei Landwirte der LPG Marzahn mit ihrem Pferdefuhrwerk mitten im Aufstandsgeschehen wieder. Zunächst verliehen sie ihrem Umut nur mündlich Ausdruck, doch bald wurden sie deutlich aktiver, wie das Ministerium für Staatssicherheit später festhielt: „Ca. 100 Meter weiter haben sie einen Wagen der Partei demoliert. Es kann nicht genau gesagt werden, ob er in Brand gesteckt wurde.“ Zudem legten sie sich mit einem Mann an, der als Parteimitglied erkennbar war: „Er solle das SED-Abzeichen abmachen, er würde wohl gar nicht wissen, dass sie nichts mehr zu sagen haben.“ Auch hier stellten sie die Herrschaft der SED ganz unmittelbar in Frage.

Landwirte als Urheber städtischen Aufbegehrens

Einen Sonderfall stellten jene Demonstrationen dar, die von Landwirten selbst organisiert waren, aber in Städten stattfanden. Der Auslöser dafür war fast überall gleich: Die Bauern wollten ihre Forderungen öffentlichkeitswirksam artikulieren. In Jessen (Bezirk Cottbus) etwa versammelten sich zunächst 150 Bauern auf dem Marktplatz. Schnell schwoll die Menge auf mehr als 1000 Personen aus sämtlichen Bevölkerungsschichten an, alsbald ging es um Grundsätzliches. Der Rücktritt der Regierung gehörte ebenso zu den erhobenen Forderungen wie freie und geheime Wahlen und die Absetzung der Kreisverwaltung. Schließlich erzwangen die Demonstranten die Freilassung von 23 Inhaftierten aus dem Gefängnis im benachbarten Herzberg.

Ähnliche Szenen spielten sich in Mühlhausen (Bezirk Erfurt) ab. Hier kamen Bauern aus den umliegenden Dörfern nach einem Sternmarsch auf die Kreisstadt zusammen. Das hatte insofern einen pikanten Beigeschmack, als die SED Mühlhausen zuvor propagandistisch zur „Thomas-Müntzer-Stadt“, zur „Stadt des Bauernkrieges“ stilisiert hatte. Nun erhoben sich die Bauern abermals und trieben den Funktionären die Angst in die Knochen. Auch in Mühlhausen erhöhte sich die Zahl der Aufständischen schnell: von zunächst 300 auf letztlich 3000. Sie verabschiedeten auf dem Untermarkt einen 11-Punkte-Plan, der die landesweit üblichen politischen Forderungen enthielt. „Einige Bauern erklärten, daß sie sich mit den Streikenden in Berlin solidarisch erklären und endlich freie Bauern sein wollen.“

Ähnliche Vorgänge spielten sich in weiteren Städten, etwa in Sömmerda (Bezirk Erfurt) und Wusterhausen (Bezirk Potsdam), ab. Überall waren die Machthaber vollkommen überrascht, dass es ausgerechnet Bauern waren, die in den Städten Massenproteste auslösten und offen für demokratische Verhältnisse eintraten.

Die Niederschlagung der Proteste

Trotz aller Entschlossenheit sollten jene Proteste, die in den Dörfern stattfanden oder von dort ausgingen, nur von kurzer Dauer sein. Das hatte einen einfachen Grund: Auch dort schlugen sowjetische Truppen und ostdeutsche Sicherheitskräfte mit aller Entschiedenheit zu. So umstellten Panzer der Roten Armee das bereits erwähnte Eckolstädt und in Mühlhausen marschierten sowjetische Truppen ein. Über die meisten ländlichen Regionen wurde der Ausnahmezustand verhängt; in vielen Gemeinden erfolgten Verhaftungen. Der offene Aufstand fand so schnell ein Ende.

Doch im Gegensatz zu den städtischen Ballungszentren ging der Widerstand in subtileren Formen bis mindestens zum Ende des Jahres 1953 weiter. SED-Funktionäre wurden weiterhin tätlich angegriffen, dorffremde Funktionäre von den Höfen geprügelt. Auf Bauernversammlungen wurden die Einführung der Marktwirtschaft und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten verlangt. Die Landwirte nutzten die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik kontinuierlich als Bezugsmodell, um die Missstände in der DDR offen anzuprangern. Streiks waren zu verzeichnen, und die Ablieferung landwirtschaftlicher Produkte blieb im ganzen Jahr deutlich hinter den Planvorgaben zurück. Immer wieder registrierte die Polizei Straßensperren, die Eingriffe der Machthaber in die Dörfer erschwerten.

Infolge des Volksaufstandes lösten sich landesweit mindestens 564 der zuvor gegründeten Produktionsgenossenschaften auf. „Ruhe in den Städten, aber Gärung u. Feindhetze auf dem Lande“, hielt der prominente Romanist Victor Klemperer in seinem Tagebuch fest. Das war ohne Zweifel eine zutreffende Beschreibung. Erst 1954 sollte es Partei und Staat gelingen, langsam wieder Herren über die Dörfer zu werden.

Jens Schöne ist Historiker und Stellvertretender Beauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (BAB).

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