Demokratiegeschichten

Macht und Krisen. Krisen in Demokratien und Diktaturen

Die Legitimität jedes politischen Systems der Welt wird gerade getestet von der Corona-Realität. Wer ist mehr in Gefahr: Diktaturen oder Demokratien? Krisen sind immer auch ein Test für ein politisches System. Schauen wir in die letzten 70 Jahre zurück, haben sich Demokratien und Diktaturen in Krisen unterschiedlich geschlagen.

Individuelle Persönlichkeitsrechte versus Volksgesundheit

Seit den 1950er-Jahren setzte die DDR eine gesetzliche Impfpflicht durch. Die Erfolge der DDR-Impfprogramme waren enorm. Die Krankheitszahlen sanken rapide nach deren Einführung. Besonders spektakulär beim Kampf gegen die Kinderlähmung, zumal im Vergleich mit dem Westen. Während im individualisierten Westen 1960 noch Polio-Epidemien wüteten, war die zentral verwaltete DDR-Gesellschaft seit 1958 zu großen Teilen immunisiert gegen die Kinderlähmung.

Gegenüber standen sich individuelle Persönlichkeitsrechte versus Volksgesundheit, der sich der Einzelne unterzuordnen hatte – auch im Interesse des Sozialismus. Denn Prophylaxe und Sozialismus waren in der DDR untrennbar. Wer Impfungen ablehnte, der stimmte in den Augen der Staatsführung auch dem Sozialismus nicht zu.

Gleichzeitig lehnte Konrad Adenauer Anfang der 1960 Jahre das Angebot auf Polioimpfstoff aus der DDR ab. Obwohl in der BRD die Seuche grassierte und Opfer forderte, fürchtete er den absehbaren propagandistischen Triumph der DDR-Regierung über das Gesundheitssystem der BRD. Hier stand Staatsräson gegen propagandistische Hilfeleistung.

Informationskontrolle versus Informationsoffenheit versus haltlose Schutzversprechen

Vertuschung

Als sich am 26. April 1986 im Kernkraftwerk Tschernobyl eine Reaktorkatastrophe ereignete, erfuhr die Weltgemeinschaft zwei Tage später auf Grund von Messungen in einem schwedischen Atomkraftwerk, dass in der Sowjetunion etwas passiert sein musste. Erst am 28. April reagiert das Politbüro der kommunistischen Partei der Sowjetunion. Lediglich eine kurze Mitteilung in den Abendnachrichten. Mehr Informationen gab es nicht. Das Staatsoberhaupt Michail Gorbatschow wandte sich erst am 14. Mai 1986 an das Volk. Aber statt zu informieren wurde erklärt, dass die Reaktionen im Westen auf den Reaktorunfall eine antisowjetische Kampagne seien.

Überinformation

Als wichtigsten Unterschied in Ost und West im Umgang mit der Reaktorkatastrophe schätzt die Umwelthistorikerin Melanie Arndt das unterschiedliche Maße an Presse-, Meinungs- und Informationsfreiheit ein. Während im Westen sehr schnell über Risiken und Folgen gesprochen wurde, passierte das im Osten gar nicht oder nur beschränkt. Selbst die DDR-Medien schwiegen. Dafür beschafften sich die Menschen Informationen aus den Westmedien. Hier wiederum gab es so viele Informationen und führten Experten so offene und kontroverse Diskussionen über Radioaktivität und ihre Folgen, dass die Menschen überfordert waren. Sie wollten gar keine konträren Diskussionen, sondern sie wollten ganz klare Handlungsanweisungen. Die gab es aber nicht, denn keiner wusste es genau.

Desinformation

34 Jahre später verschärft Russland in der Corona-Krise das 2019 eingeführte Gesetz gegen „Fake News“ noch einmal. Die Erweiterung erfasst nun auch Worte wie „Pandemie“ oder „Corona“. Das Ziel ist relativ deutlich: Die Oberhand zu behalten über die Informationen zum Corona-Virus. Diese werden zumeist über die landesweit staatlichen Kanäle verbreitete. Oppositionelle Medien gibt es kaum. Und allen Fake-News-Gesetzen zum Trotz sind es vor allem staatsnahe russische Medien, die derzeit für Desinformationen sorgen, z. B. indem sie Corona als eine „nie dagewesene Epidemie“, die vom Westen hochgespielt wird, darstellen. In Krisen wie der Corona-Pandemie ein großes Problem für den politischen Zusammenhalt.

Überwachung von Informationen

Auch im autoritär regierten China lässt sich im Umgang mit dem Corona-Virus ein ähnlicher Umgang beobachten. Aufs Strengste ließ die chinesische Führung die Verbreitung jeglicher Informationen oder „Gerüchte“ über das Virus überwachen, die eventuell die gesellschaftliche Stabilität bedrohen oder Kritik an der Regierung auslösen könnten.

Schutzversprechen

Eine weitere Strategie sind öffentliche Demonstrationen von Ungefährlichkeit und Schutzversprechen von Politikern. Damit soll von oberster Stelle nach außen demonstriert werden, dass es keine oder nur eine geringe Gefahr gibt. So aßen nach der Katastrophe in Tschernobyl deutsche Politiker öffentlich Salat, um zu beweisen, dass er nicht verstrahlt sei. Auch der türkische Premierminister genoss ein Glas Tee, der Tee, der besonders verstrahlt war. Alles sei sehr gut, sagte er, und der Tee steigere sogar die Potenz. 2020 gaben Staatsoberhäupter wie der britische Premier Boris Johnson oder der amerikanischer Präsident Donald Trump am Beginn der Corona-Pandemie noch öffentliche Schutzversprechen, die in den öffentlichen Medien ihres Landes längst widerlegt wurden. Während die Krankenhäuser in Amerika und Großbritannien bereits tausende Erkrankte versorgten, gaben Trump und Johnson der Bevölkerung vor, ihre Länder seien vor dem Virus geschützt.

Der Mut einzelner zu Handeln

Wieviel individuellen Handlungsspielraum geben die verschiedenen politischen Systeme dem Einzelnen, um vor Ort gezielt zu handeln?

Handeln im Befehlszentralismus

Nach dem Gau im Atomkraftwerk Tschernobyl 1986 gab es zwar Notfallvorkehrungen, die aber in manchen Fällen auf Grund des sowjetischen Befehlssystems nicht griffen. Auch, weil benötigte Befehle nicht erteilt wurden. Den entsprechenden Verantwortlichen vor Ort fehlte es oftmals an Souveränität und Durchsetzungskraft, um allein zu handeln. Auf der anderen Seite wurden in einem selbstbewussten Schritt Kiewer Kinder evakuiert; entgegen einer Ansage aus Moskau, weil damit Panik ausgelöst werden könne. Zu betonen ist, dass es trotz allem immer auch erfolgreiche eigenmächtige Versuche Einzelner gab, die Bevölkerung zu schützen. Doch oftmals scheiterten effektive Schutzmaßnahmen am zentralistischen Befehlssystem der Sowjetunion. Nichtsdestotrotz muss auch bedacht werden, dass diese Situation 1986 beispiellos war. Für einen Unfall solchen Ausmaßes hatte man keine Pläne parat.

Auch aktuell müssen im chinesischen zentralisiert und hierarchisch organisierten autoritären System Parteisekretäre Entscheidungen auf Grund widersprüchlicher politischer Überlegungen fällen. Dabei haben Informationskontrolle und politische Stabilitätsüberlegungen höchste Priorität.

Handeln im freiheitlichen Föderalismus

Im Gegensatz dazu steht die Sturmflutkatastrophe 1962 an der Nordsee. Noch in der Nacht als die Deiche brachen, organisierten die Verantwortlichen der verschiedenen Bundesländer Hilfe. In Hamburg übernahm kurzerhand der damalige Innensenator Helmut Schmidt das Ruder und versah sich mit weitreichenden Vollmachten.

Erfolg oder Misserfolg in der Bewältigung einer Krise haben nur wenig mit dem Regierungsmodell zu tun

Erfolg oder Misserfolg sind kaum auf die Art des Regierungsmodells zurückzuführen. Entscheidender ist die Einstellung der jeweiligen Führung, das Vertrauen, das sie im Volk genießt, und – wie im aktuellen Fall – die Leistungskraft des Gesundheitssystems.

Ein oberflächlicher Blick auf den Globus zeigt, dass manche autoritären Regime die Pandemie wirkungsvoll eindämmen, andere dabei jedoch völlig versagen. China hat es nach anfänglicher Vertuschung des Corona-Ausbruchs mit brutaler Entschlossenheit geschafft, die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Wohingegen der Iran, eine klerikale Diktatur, versagt hat.

Auch in den Demokratien ist die Bilanz gemischt. Donald Trump bagatellisierte und  brauchte weit länger als das chinesische Staatsoberhaupt Xi Jinping, bis er die Fakten ernst nahm. In  den Demokratien Italien und in Spanien, wütete das Virus schlimmer als in China, während die Demokratien Südkorea und Taiwan bewundernswerte Erfolge erzielten.

Es ist nicht die Verschiedenheit der Verfassungsmodelle, die über Gelingen oder Misslingen einer Krisenbewältigung entscheiden. Denn ein bestimmender Faktor ist neben der Einsichts- und Lernfähigkeit der Regierenden das Vertrauen der Regierten in ihre Obrigkeit. Eine Studie (Gallup International Association) ergab, dass dieses Vertrauen hoch in China und niedrig in Italien ist. Je größer es ist, desto eher unterwerfen sich die Leute den notwendigen Einschränkungen.

Das Bedürfnis nach Staatlichkeit in Krisen

Der Rückblick zeigt: Krisen brauchen jemanden, der den Weg vorgibt und Entscheidungen fällt. Große Krisen wecken bei Bevölkerungen das Bedürfnis nach einem klaren, richtungsweisenden Auftreten des Staates. Zwar bleiben in Krisen Zivilgesellschaftlichkeit und Solidarität weiter gefragt – das hat Corona bewiesen. Aber nicht alle Dinge lassen sich selbstorganisatorisch regeln. Es braucht eine gemeinsame Stimme und das ist die Stimme des Staates.

Ich selbst bin froh, diese Krise in einer Demokratie zu durchleben. Auch wenn autokratische Staaten mit rigorosem Vorgehen und ohne Aushandlung dem Virus entgegentreten und gute Ergebnisse erzielen, sehe ich in der Gesamtbilanz in der Demokratie die Menschen- und Freiheitsrechte eher gewahrt. Für mich ist es ein gutes Gefühl in einem Staat zu leben, der in der Krise nicht diktatorisch auftritt, sondern den Geist der Solidarität bekräftigt. Und zu guter Letzt mit dem Soziologen Heinz Bude gesprochen:

Ich glaube, der gesellschaftliche Widerstandsgeist und Durchhaltewillen ist in Demokratien höher und fester verankert als in Diktaturen.

Zeit online, 21.3.2020
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