Demokratiegeschichten

Als es mit der DDR zu Ende ging

Ein Reporter als Zeitzeuge der Friedlichen Revolution und der Einheit Deutschlands

Den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 habe ich verpasst.  Ich wohnte damals wieder in Washington D. C., wo mein regulärer Arbeitsplatz als Radio-Korrespondent des NDR und des WDR war. Allerdings pendelte ich seit Spätherbst 1989 bereits zwischen der amerikanischen Bundeshauptstadt und dem noch geteilten Berlin, das sich gerade anschickte, Weltgeschichte zu schreiben. Denn in Washington wurde ich kaum noch gebraucht. Das ging meinen Kolleginnen und Kollegen, die in den USA für deutsche Medien berichteten, ähnlich. Die Musik spielte gegen Ende der 1980er-Jahre in Moskau mit Glasnost und Perestroika, von Michael Gorbatschow intoniert, und eben in Berlin, wo eine kraftlose DDR-Regierung die Zügel nicht mehr in der Hand hielt und wo ich wochenweise das ARD-Studio der DDR verstärken durfte.

Wir, die sonst so viel beschäftigten Berichterstatter über Nord- und Mittel-Amerika, waren kaum noch gefragt. Höchstens dann, wenn etwa Hermann Axen anreiste, der Architekt für die Außenbeziehungen der DDR, um den Besuch von SED-Chef Erich Honecker in den USA vorzubereiten; wozu es dann aus den bekannten historischen Gründen nicht mehr kam. Dann durften wir berichten oder eine Stellungnahme von US-Seite abgeben, wenn Gorbatschow wieder einmal eine Abrüstungsinitiative startete und der damalige amerikanische Präsident Ronald Reagan nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte.

Gratuliere zur Wiedervereinigung!

Beim Mauerfall war ich also nicht dabei, was meinen Status als Zeitzeuge der Friedlichen Revolution etwas schmälert. Ich erinnere mich noch gut, wie an diesem 9. November 1989 in Arlington unser Nachbar Bill, Rechtsanwalt von Beruf, mir über die Gartenhecke fast triumphierend zuwinkte, als er mich draußen sah, und dann ganz laut rief: Die Mauer ist gefallen! Die Einheit kommt!

Mit einiger Mühe hatten wir, meine Frau und ich, während der Demonstrationen in der DDR Bill davon zu überzeugen versucht, dass eine Wiedervereinigung nicht zwingend geboten sei; das sei auch viel zu gefährlich, weil Hunderttausende sowjetischer Soldaten in der DDR stünden. Eine österreichische Lösung, also zwei Staaten, genüge. Hauptsache Demokratie statt Diktatur. Bill nickte zwar, aber er verstand offenbar nicht, wieso wir Deutsche nicht wieder in einem Staat leben wollten.

Abends in unserem Supermarkt in Arlington geschah an diesem 9. November 1989 noch etwas Besonderes. Die Kassiererin, die uns kannte – bei meinem heavy German accent kein Wunder – unterbrach ihre Arbeit, als wir an der Reihe waren, stand auf, schüttelte uns die Hand und gratulierte uns zur Wiedervereinigung, die ja jetzt, wo die Mauer offen sei, unbedingt kommen müsse, wie sie sagte.

Warten auf das Glücksgefühl

Ach ja, noch etwas aus dieser „Nacht der Nächte“, als sich die Deutschen in den Armen lagen: Während die Telefonleitungen in Deutschland zusammenbrachen, gelang der Anruf von Arlington / USA zu den Verwandten in Hörnitz bei Zittau reibungslos. Wir sind frei! Wir sind frei! jubelten sie aus der Ferne. Und Wahnsinn! Wahnsinn!

Als ich mich Anfang 1990 nach vier Jahren US-Aufenthalt von den Kolleginnen und Kollegen in Washington verabschiedete und einige uns zum Dulles Airport begleiteten, war der Tenor ihrer Abschiedsbekundungen einhellig: Du hast ein verdammtes Glück, dorthin zu gehen, wo gerade Geschichte stattfindet!

Ich gebe zu, es hat etwas gedauert, bis das Glücksgefühl sich dann tatsächlich einstellte. In Studio an der Schadowstraße in Berlin-Ost gegenüber der amerikanischen Botschaft in der Noch-DDR und unweit des Brandenburger Tores gab es keinen Arbeitsplatz für mich. Auf dem Flur im zweiten Stock richtete ich mir in einer Ecke ein Provisorium ein. Allerdings herrschte auf dem Gang hektische Betriebsamkeit. Alle waren wahnsinnig beschäftigt, Tontechniker*innen, Cutter*innen, Reporter, Besucher. Im eigentlichen Aufnahmestudio war es zwar ruhig, aber nur so lange, bis jemand kam und entschuldigend sagte, er oder sie wolle mal kurz etwas aufnehmen. Ich möge so lange den Raum verlassen.

Irgendwann hatte Studioleiter Wolfgang Hauptmann, dessen Nachfolger ich ein Jahr später wurde, Mitleid mit mir. In seinem Büro ließ er einen zweiten Schreibtisch aufstellen, für den eigentlich gar kein Platz war. Endlich konnte ich halbwegs konzentriert meine Tonbänder abhören und Texte schreiben.

Zurück in Berlin – aber wohin?

Das nächste Problem: Es gab keine bezahlbaren Wohnungen mehr in Berlin. Gleichsam über Nacht war der Immobilienmarkt explodiert. Eine Wohnung zu suchen, das kostete Zeit und Nerven. Wenn es überhaupt Angebote gab, dann nur noch zu horrenden Preisen. Zwei Mal landete ich im Ostteil der Stadt in Prachthäusern, die  Größen aus Volksarmee und Staatssicherheit gehörten: Bungalows in schöner Lage, ausgestattet mit modernster West-Technik, von der Heizung bis zur Kücheneinrichtung. Die Mietvorstellungen der Eigentümer pendelten zwischen 5000 und 7000 DM pro Monat.

Drei Monate wohnte ich im Hotel „Metropol“ an der Friedrichstraße, also gleich um die Ecke. Da die Diktatur der Oberkellner noch etwas länger andauerte als die der SED-Oberen, musste man sich mit der Bedienung gut stellen, wenn nach einem arbeitsreichen Tag spätabends der Hunger sich meldete. Irgendwann war ich das Hotel-Leben satt. In Güterfelde bei Potsdam mieteten wir uns an einem See eine Datsche. Es war Sommer, und endlich wohnte unsere vierköpfige Familie wieder unter einem Dach. 

Die Datsche hatte allerdings einen Nachteil. Die sanitären Anlagen funktionierten nicht. Also musste eine mobile WC-Einheit gemietet werden, „Big John“ oder so ähnlich nannte die Fima das Ersatz-Stück. Als es dann bald mit einem riesen Kranwagen auf unser Grundstück gehoben wurde – es war eines der größeren Exemplare -, erregte es bei den benachbarten Datschen-Bewohnern einiges Aufsehen. Typisch Wessi, werden sie gedacht haben.

Der frühe Vogel…

Noch mehr Irritationen erregte es, wenn ich morgens in aller Frühe meinen Bericht für die Morgenmagazine über ein Ereignis vom Vorabend, z. B. eine Sitzung der Volkskammer, an die ARD durchgeben wollte. Ich tat das draußen, es war ja Sommer, und zwar mit einem drahtlosen Telefon schwedischer Bauart, vom Schwergewicht her kein Vorläufer des Handy, wohl aber der Funktion nach. Also legte ich los: Hier ist … mit einem Bericht über …: Achtung, bitte schneiden, bitte schneiden…

Eines frühen Morgens öffnete sich beim Übersprechen eines Berichts die Tür der gegenüberliegenden Datsche, und heraus kam ein Mann, der mich völlig entgeistert ansah, gewissermaßen mein erster Hörer an diesem Tag. Mit Mühe brachte ich meinen Bericht zu Ende. Dann erklärte ich ihm, was ich da in den frühen Morgen gesprochen hatte. Unser Nachbar meinte verständnisvoll, er habe sich nur gewundert, um diese Uhrzeit draußen einen Vortrag zu hören.

Auf Sendung 24/7

Die Wohnungsfrage wurde schließlich im Spätsommer 1990 mit einer Bleibe in Berlin-Hermsdorf gelöst. Die Arbeit selbst nahm von Monat zu Monat immer weiter zu. Manchmal überschlugen sich die Ereignisse: Stasi-Enthüllungen über Politiker, Pressekonferenzen, Treuhand-Skandale, Massenarbeitslosigkeit, Streiks, Betrügereien, Gewaltaktionen. Die Kapazität unseres Aufnahmestudios reichte nicht mehr. Auf der Schadowstraße wurde ein Dauerparkplatz für einen Übertragungswagen eingerichtet, der über dicke freischwebende Kabel mit unserem Übertragungssystem im zweiten Stock verbunden war. Unsere Arbeitswoche dauerte inzwischen sieben Tage. Die Anfragen aus den Redaktionen hörten einfach nicht auf. 

Längst hatte ich mir abgewöhnt, mit Kolleginnen oder Kollegen in den ARD-Sendern, die Beiträge bestellten wollten, über die Sinnhaftigkeit einer Reportage oder eines Kurzbeitrages zu diskutieren. In Washington hatte ein Kollege manchmal über die Diktatur des Volontariats in den Funkhäusern geschimpft und sich auf ein Streitgespräch eingelassen, um ein schon vielfach behandeltes Thema nicht noch einmal behandeln zu müssen. Das kostete Zeit und Nerven. Also fragte ich immer nur nach dem Thema, nach der gewünschten Länge des Beitrages und der Überspielzeit. Ein Korrespondent ist in erster Linie Dienstleister, dachte ich.

Hat sich einer der Kolleginnen und Kollegen über den Stress und die nicht endenden Belastungen beklagt? Nein, niemand. Unsere Beiträge liefen sozusagen rund um die Uhr. In fast jeder tagesaktuellen Hörfunksendung war ein Stück aus dem ARD-Studio Berlin vertreten, manchmal sogar zwei.

Es gab Situationen, da blieben für das Abfassen eines Beitrages nur noch wenige Minuten, gelegentlich auch gar keine Zeit mehr. Auf der Autofahrt von einem Ereignis zum Studio lief unterwegs der Kassetten-Rekorder, um aus dem Mitschnitt O-Töne zu filtern. Vor der Aufnahme erging an die Cutterin noch kurz der Hinweis, schnell an bestimmten Stellen Original-Töne – möglichst am Satzende mit der Stimme nach unten – zu schneiden. Im Studio blinkte schon das Rotlicht, die Überspielung musste beginnen. Einmal durchatmen und dann volle Konzentration!

Cut durch die Geschichte

Eigentlich müsste ich mich bei einzelnen Cutterinnen in den ARD-Rundfunkanstalten heute noch entschuldigen. Nicht immer spielte das Nervenkostüm mit, dann häufte sich die Zahl der Versprecher, die aus dem Band geschnitten werden mussten. Tonbänder waren unser Medium.

Nein, niemand hat sich beklagt. Jeder wusste: Fast täglich fand Geschichte statt und wir hatten das Privileg, darüber aktuell berichten zu dürfen.

Später dachte ich manchmal: Wir haben in dieser Zeit fast nur von Adrenalin gelebt. Ja doch, wir waren journalistische Zeitzeugen der Friedlichen Revolution und der Einheit Deutschlands, die dann allerdings zum Teil einen ganz anderen Verlauf nahm, als die Menschen in Ostmitteldeutschland sich das gewünscht und erträumt hatten.

Hermann Vinke

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