Demokratiegeschichten

Ernst Reuter: „Schaut auf diese Stadt!“

Berlin: Einige bekannte Aussprüche sind hier gefallen, die ein oder andere berühmte Rede gehalten worden. Wegen ihres Status als geteilte Stadt stand sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederholt im Zentrum der Weltöffentlichkeit. „Ich bin ein Berliner“, „Tear down this wall“: Zweifellos bedeutsame Sätze, die auf der Weltbühne Berlin fielen.

Doch nicht amerikanische Präsidenten, sondern Ernst Reuter, der Oberbürgermeister West-Berlins, legt kurz nach Kriegsende den Status der Stadt für die Zukunft fest. Am 9. September 1948, vor den Trümmern des Reichstagsgebäudes, hält er seine wohl berühmteste Rede:

Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, daß ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt!

Ernst Reuter in seiner Rede am 9. September 1948 vor dem Reichstagsgebäude

„Ihr Völker der Welt“ – getragen und mit viel Pathos wendet sich Ernst Reuter an seine Zuhörerschaft. Und das sind an diesem Tag nicht nur die über 300.000 Menschen, die sich vor dem Reichstag versammeln. Das sind tatsächlich auch – vor allem – die westlichen Alliierten. Denn die erfüllten in Berlin 1948 neben ihrem Status als Besatzungsmächte eine besondere Rolle. Seit dem 26. Juni waren sie für die Durchführung der Luftbrücke zuständig.

Warum die Luftbrücke?

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Eine C-54 landet am Flughafen Berlin-Tempelhof; Foto: Henry Ries/USAF

Die Luftbrücke war notwendig, da sowjetische Truppen die Versorgungswege nach West-Berlin blockierten. Dies wiederum war eine Reaktion auf die zunächst in Westdeutschland und dann in West-Berlin durchgeführte Währungsreform, mit der die deutsche Wirtschaft stabilisiert werden sollte. Da die Sowjetunion die Reform ablehnte, fanden Planung und Umsetzung nur in der Trizone statt. Das sah die sowjetische Kommandantur als Verletzung der Potsdamer Konferenzbeschlüsse an, die die politische und wirtschaftliche Einheit Deutschlands festlegten. Am 24. Juni 1948 schnitt sie West-Berlin von der Außenwelt ab.

Zwar begannen die westlichen Alliierten fast umgehend mit der Versorgung der Stadt aus der Luft. Bereits im April hatten Briten und Amerikaner auf diese Weise über die „kleine Luftbrücke“ eine abgeschnittene Garnison versorgt. Doch diese dauerte nur zwei Tage an, danach waren die Straßen wieder frei. Die Versorgung einer Großstadt über mehrere Monate stellte einen enormen Organisationsaufwand dar:

322 Tage lang versorgten amerikanische und britische Flugzeuge die West-Berliner Bevölkerung aus der Luft. Circa 2,2 Millionen Menschen lebten in den Westsektoren Berlins. Für sie alle mussten Lebensmittel, Medikamente, Kohle, Heizöl und vieles mehr eingeflogen werden. Über 2.000 Tonnen Luftfracht brachten die Flugzeuge jeden Tag nach Berlin.

Trotz des enormen Aufwands, den die Westalliierten leisteten, gingen die meisten Berliner*innen davon aus, vor dem Winter kapitulieren zu müssen. Zu groß erschienen der Aufwand und die Mengen, die für das Leben in der abgeschnittenen Millionenstadt nötig waren. In dieser Situation, wenige Wochen nach Blockadebeginn, ergriff Ernst Reuter das Wort.

Reuters Rolle im geteilten Berlin

Reuter als West-Berlins Fels in der Brandung? Ganz so einfach war es für ihn nun nicht, was sich u. a. an seiner Position in der Nachkriegszeit zeigt. Eigentlich war der Sozialdemokrat 1947 von der Stadtverordnetenversammlung zum Oberbürgermeister Berlins gewählt worden. Doch die sowjetische Kommandantur legte ihr Veto ein. Statt Reuter führte Louise Schroeder die Geschäfte als Oberbürgermeisterin kommissarisch weiter.

Warum das Veto? Ernst Reuter war erklärter Antikommunist, aus Erfahrung. Während des Ersten Weltkriegs war er in russische Kriegsgefangenschaft geraten, lernte bald Sprache, Land, Leute und das kommunistische System unter Wladimir Iljitsch Lenin kennen. Er unterstütze ihn und dessen Regierung. Lenin ernannte ihn 1917 sogar zum Volkskommissar für die Wolgadeutschen.

Als Ernst Reuter 1918 von der Novemberrevolution in Deutschland hörte, kehrte er nach Hause zurück, um mehr Mitglieder für die Kommunistische Partei zu werben. 1921 wählten ihn die Delegierten der Partei sogar zum Generalsekretär. Schon ein Jahr später wurde er allerdings aufgrund parteiinterner Streitigkeiten um die Märzaktion aus der KPD ausgeschlossen. Daraufhin trat er (erneut) der SPD bei. Mit dem radikalen Kommunismus schloss er endgültig ab.

Auch gegen den Nationalsozialismus positionierte er sich deutlich. Bis 1933 war Reuter u. a. als sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter und Oberbürgermeister Magdeburgs tätig. Dann folgten zwei Verhaftungen und Inhaftierungen im KZ Lichtenberg durch die Nationalsozialisten. Mit Glück konnten ihn englische Freunde aus der Haft befreien, daraufhin ging er 1935 von Großbritannien aus ins Exil in die Türkei. 1946 kehrte er nach Berlin zurück.

Zurück ins Jahr 1948. Zwar agiert Reuter offiziell nicht als Oberbürgermeister von Berlin. Doch er tritt weiter als Redner auf und erfreut sich ungemeiner Beliebtheit, durch ihn erreicht die SPD Höchstwerte bei den Wähler*innen. Und immer wieder betont Reuter eines: Berlin müsse von den Westmächten gehalten werden. Andernfalls wäre einer weiteren Ausbreitung des Kommunismus sowjetischer Prägung nichts mehr entgegenzusetzen. Durch diese klaren und selbstbewussten Aussagen wird Reuter bald auch ein gefragter Ansprech- und Gesprächspartner für die Westmächte.

Rede am 9. September 1948

Und dann dieser Satz:

„Schaut auf diese Stadt und erkennt, daß ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt!“

Mit Ernst Reuter steht am 9. September 1948 kein Mensch vor dem Reichstag, der kurz vor der Kapitulation ist. Sondern einer, der sich der politisch brisanten Lage vollauf bewusst ist und dennoch unglaubliches Selbstbewusstsein ausstrahlt.

Was er den Alliierten zuruft, hätte auch anders lauten können. Er aber sagt: Ihr könnt uns nicht im Stich lassen. Dazu sind wir zu wichtig. Denn wenn Berlin als „Vorposten der Freiheit“ preisgegeben wird, dann ist letztendlich kein freies Land, dann seid auch ihr nicht mehr sicher.

Eine klare Ansage, die von Berlin um die Welt geht. Einerseits setzt Reuter die Alliierten damit unter Druck, andererseits bewegt er die Berliner*innen zum Durchhalten. Mit Erfolg: Am 12. Mai 1949 wurde die totale Blockade der Verkehrswege aufgehoben. Bis zum 30. September flogen noch Flugzeuge, dann endete auch die Luftbrücke. Die Verhältnisse in West-Berlin waren wieder normalisiert, bzw. auf dem Stand wie vor der Blockade.

Und Ernst Reuter? Der wurde im Dezember 1948 doch noch zum Oberbürgermeister ernannt. Bis zu seinem Tod 1953 war er Regierender Bürgermeister von Berlin. Noch heute erinnern zahlreiche Straßennamen und Plätze an ihn. Hoffen wir, dass er und seine Rede nicht so bald vergessen werden.

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Über uns 
Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

7 Kommentare

  1. Hans-Otto Bürger

    11. März 2020 - 12:03
    Antworten

    Ein Moment der Gescichte,der nicht vergessen werden kann,nicht vergessen werden darf.
    UIch bin zwar erst Jahrgang 1950 aber ich fnde diese Rede von Ernst Reuter so bedeutend,
    so ergreifend ,so emotional,daß ich sie nie vergessen werde.

    • Obama Barack Michelle family account

      9. September 2020 - 16:43
      Antworten

      „Erst“? Ich denke, Sie sind zeitlich nah genug an der Rede dran! Mein Respekt und vielen Dank für deine Dienste.

  2. Hans-Peter Strenge

    26. Januar 2021 - 10:06
    Antworten

    Ernst Reuter trat am 9. September 1948 nicht nur wegen der Blockade und derLuftbrücke vor dem Reichstag auf. Vielmehr lag ein weiterer Anlass erst drei Tage zurück: SED-Betriebskampfgruppen hatten am 6. September 1948 das Neue Stadthaus im Sowjetsektor gestürmt, in dem die 1946 in ganz Berlin freigewählte Stadtverordnetenversammlung gerade tagte. Diese Erstürmung unter Duldung der Ost-Polizei veranlasste die drei Fraktionen von SPD, CDU und LDPD die Sitzung im Schöneberger Rathaus im amerikanischen Sektor fortzusetzen.

  3. Andreas

    27. Juni 2023 - 15:23
    Antworten

    Diese Rede von Ernst Reuter ist von soviel Pathos getragen, charismatisch, trotz der brisanten Lage nicht eine Sekunde vom Geist der Resignation geprägt, für mich ( Jhrg 58 ) ein Meilensein der deutschen Geschichte!!!

  4. Karla

    13. Juli 2023 - 19:42
    Antworten

    nach dem ersten gender Wort aufgehört zu lesen. gendern triggert mich

    • Lis

      9. September 2023 - 12:48
      Antworten

      Mein Beileid, Karla. Das muss ja heutzutage furchtbar für Sie sein, so vieles können Sie nicht mehr lesen!

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